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Ein Glas voller Erkenntnisse: Das Abwasser kann viel über unsere Lebensweise, den Wandel der Gesellschaft und die Krankheiten der Menschen verraten.

Kanalisation ist wie ein Straßennetz

Abwasser samt Essensresten und Klopapier: Wo landet das in Karlsruhe und wie wird es sauber?

Jede Sekunde erzeugt die Großstadt Karlsruhe eine Riesenmenge an Abwasser, die ununterbrochen gereinigt werden muss. Es ist möglich, selbst kleine Partikel aus dem Abwasser zu entfernen, die gefährlich sind. Auch bei der Corona-Bekämpfung war der Blick ins Abwasser hilfreich.
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Mag sein, dass woanders alle Wege nach Rom führen. In Karlsruhe führen sie allerdings nach Neureut. Zumindest wenn es um ein verborgenes Netzwerk von kleinen und größeren „Straßen“ geht, die in „Autobahnen“ münden, die ihrerseits in einer riesigen Industrieanlage im Norden der Stadt nahe der B36 enden: dem Klärwerk.

Hier kommt das von etwa 500.000 Einwohnern im Raum Karlsruhe, Ettlingen, Rheinstetten und Malsch produzierte Abwasser zusammen, das zuvor durch ein 1.160 Kilometer langes Labyrinth aus Kanälen geflossen ist.

Das Faszinierende ist: Im Unterschied zum Verkehrswegenetz, dem es unterirdisch folgt, schläft das für die meisten Menschen unsichtbare Abwasser-Transportsystem nie.

In Karlsruhe kommen jährlich im Schnitt 35 Millionen Kubikmeter Abwasser zusammen

In einer Großstadt ist immer jemand wach, der den Wasserhahn aufdreht oder die Toilettenspülung betätigt. Die Industrieproduktion läuft, irgendwo wird ein Schwimmbad gespült, die Bäcker putzen früh ihre Öfen und Bleche. Tag und Nacht, jede Sekunde rauscht ein trüber bräunlich-grüner Fluss die unterirdischen Leitungen hinunter, der zuverlässig gereinigt werden muss, komme was wolle.

Wenn es funktioniert und die Menschen nichts merken, dann haben wir unsere Arbeit gut gemacht.
Albrecht Dörr, Bereichsleiter Stadtentwässerung in Karlsruhe

Im Schnitt kommen in Karlsruhe so jedes Jahr 35 Millionen Kubikmeter Abwasser zusammen, für die Albrecht Dörr und seine 200 Mitarbeiter zuständig sind. „Wenn es funktioniert und die Menschen nichts merken, dann haben wir unsere Arbeit gut gemacht“, sagt der Bereichsleiter Stadtentwässerung im Tiefbauamt.

Abwasser wurde in der Corona-Zeit zur Goldgrube für Epidemiologie

Diese Arbeit ist komplex und vielseitig. Sie verbindet uralte Infrastruktur und modernes Hightech. Wer beim Stichwort Abwasser nur an Gestank und Fäkalien denkt, hat vielleicht das Zukunftspotenzial einer Branche noch nicht erkannt, die in der Corona-Zeit zu einer Goldgrube für Epidemiologen wurde und bald einen wichtigen Beitrag für nachhaltige Rohstoffrückgewinnung leisten wird.

Was ist Abwasser? Albrecht Dörr überlegt kurz und sagt: „Alles.“ Dusch- und Spülwasser. Ausscheidungen und Toilettenpapier, Haare und Hautpartikel, Kosmetik, Seife, Essensreste und Fette. Stoffe aus Kliniken oder Betrieben. Fussel von der Kleidung. Teilchen, die beim Abrieb der Autoreifen in die Schächte geschwemmt werden. Auch Regen, der auf die Straße fällt und den Schmutz mitnimmt – er zählt ebenfalls als Abwasser. Ebenso Trinkwasser, sobald ein Tropfen aus dem Wasserhahn die Spüle trifft.

Zwei Systeme im Einsatz: Was unterscheidet Mischsystem und Trennsystem?

All dies wird ständig abtransportiert durch zwei Arten von Leitungen: Mischsystem (Regen und Abwasser in einem Rohr) und Trennsystem (zwei Rohre).

Das Entwässerungsnetz in Karlsruhe
Abwasser wird abtransportiert durch zwei Arten von Leitungen: Mischsystem (Regen und Abwasser in einem Rohr) und Trennsystem (zwei Rohre). Foto: BNN Grafik

Das erste entwässert vor allem die Innenstadt und ältere Viertel, das zweite hauptsächlich Neubaugebiete am Stadtrand. Durch die separaten Rohre des neueren Systems werden die Niederschläge von den Dächern und Straßen gesammelt und zum Beispiel in die Alb und die Pfinz direkt geleitet. Das verringert die Wassermengen, die das Klärwerk verarbeiten muss.

Dieses verzweigte Netz hat in dem ab 1588 gebauten Landgraben seinen Ursprung. Der Tunnel verläuft quer durch die Stadtmitte, Abwasser-Profi Dörr nennt ihn eine „Autobahn“. An solch große Kanäle mit Durchmesser bis 2,4 Meter – in der Fachsprache „Hauptsammler“ – sind die kleinen Leitungen der Wohnstraßen und die größeren Rohre der Wohnsammelstraßen angeschlossen.

Toilettenpapier kann für das Karlsruher Abwasser-System zum Problem werden

Das System sei so angelegt, erklärt Dörr, dass das Abwasser dank eines leichten Gefälles von fast jedem Punkt frei hinunterfließen kann, ohne gepumpt werden zu müssen. Das bedeutet auch: Was in die Toilette fällt, kann auf dem Weg zum Klärwerk noch stundenlang im Stadtgebiet unterwegs sein.

Wenn der Papierberg nicht transportiert wird, dann haben wir ein Problem.
Albrecht Dörr, Bereichsleiter Stadtentwässerung in Karlsruhe

Das bewährte Prinzip stößt aber dort an seine Grenzen, wo der Umweltschutzgedanke greift. Ein Karlsruher verbraucht heute täglich im Schnitt etwa 130 Liter Wasser, zwei Drittel davon für Körperpflege und Toilette. „Die Menschen nutzen fast genauso viel Toilettenpapier wie früher, drücken aber die Spartaste der Spülung“, erklärt Dörr. „Im Kanal fließt das Wasser relativ langsam, das sind nur etwa 0,5 Meter pro Sekunde. Wenn dieser Papierberg nicht transportiert wird, dann haben wir ein Problem.“

Ein noch größeres Problem seien Essensreste und Hygieneartikel im Abwasser. „Zur Mittagszeit schwimmen Kartoffeln und Nudeln durch die Kanäle“, hat Dörr beobachtet. „Es wäre gut, wenn die Menschen das in den Biomüll kippen.“ Weil die in den Abfluss gegossenen Bratfette in den Leitungen ausflocken, müsse das Klärwerk jedes Jahr etwa zehn Tonnen Fette entsorgen. Auch die in die Toilette hinunter gespülten Slipeinlagen, Kondome und Windeln machten sehr viel Arbeit, berichtet der Leiter der Stadtentwässerung.

Q-Tips, Katzenstreu und Feuchttücher als Abwasser-Plage

Dörr ärgert sich besonders über die beliebten Q-Tip-Stäbchen: Nachdem sich die Watte abgelöst habe, würden die dünnen, schwimmenden Röhrchen die Barrieren der konventionellen Kläranlagen überwinden: „In Karlsruhe bekommen wir sie noch gerade so herausgefiltert“, sagt der Fachmann.

Lästig sei auch das Katzenstreu, das in den Leitungen aufquelle. „Und dann werden noch die unzerreißbaren Feuchttücher angeschwemmt. Sie müssen unbedingt entfernt werden, weil unsere Pumpen sonst einen Schaden nehmen könnten.“

Die Welt wird chemischer.
Albrecht Dörr, Bereichsleiter Stadtentwässerung in Karlsruhe

Laut Dörr hat die Komplexität des Abwassers zuletzt zugenommen. „Die Welt wird chemischer“, sagt er mit Blick auf die Vielfalt von Konsumprodukten. Zahncreme, die feine Kügelchen hat, damit die Zähne sauber werden. Peelingmasken für die glattere Haut.

Oder Hightech-Regenschutz: „Wenn die jungen Menschen draußen in ihren wasserabweisenden Jacken gegen die Umweltzerstörung demonstrieren, ist es vielen nicht bewusst, dass sich die Mikropartikel beim Waschen ablösen und in den Wasserkreislauf gelangen.“

Wie funktioniert die Reinigung des Abwassers?

Stephen Kempers Aufgabe ist, den Wasserkreislauf möglichst rein zu halten. Und hin und wieder die Anrufe von verzweifelten Karlsruhern zu beantworten: „Haben Sie zufällig ein Gebiss gefunden? Könnten Sie einen USB-Stick bergen?“ Beides ist unmöglich, dafür kann sich der Leiter des Klärwerks an ein Fahrrad erinnern, das seine Mitarbeiter einmal aus dem Abwasser herausgeholt hätten. Der exotische Fund sei eingeschmolzen worden.

Das Wasser, das unser Klärwerk verlässt, entspricht dem höchsten Reinheitsstandard.
Stephen Kemper, Leiter des Klärwerks Karlsruhe

Kemper beschreibt die finale Reinigung des Abwassers als einen komplexen mechanischen und chemischen Prozess, in dem Bakterien mitwirken, die den Stickstoff abbauen. Wasser und Schlamm werden in drei Reinigungsstufen getrennt. Letzterer wird nach der Trocknung bei 850 Grad verbrannt, wobei die erzeugte Wärme eine Turbine zur Stromerzeugung antreibt. „Das Wasser, das unser Klärwerk in Richtung Alb verlässt, entspricht dem höchsten Reinheitsstandards“, betont der Leiter.

Schmea des Klärwerks
Wie funktioniert ein Klärwerk? Foto: BNN Grafik

Relativ neu in Karlsruhe ist die sogenannte Flockungsfiltration, mit der die Phosphorbelastung des Wasserkreislaufs zusätzlich reduziert wird – eine Anlage dafür ist 2019 in Betrieb gegangen. Die ab 2029 bundesweit verpflichtende Phosphor-Rückgewinnung sieht man bei der Stadtentwässerung als eine wichtige Aufgabe der Zukunft, schließlich werde der in der Natur nur begrenzt vorkommende Rohstoff in der Landwirtschaft stark gebraucht.

Eine andere Herausforderung sei es, die großen Mengen an Regenwasser zu bewältigen, die über das Mischsystem das Klärwerk erreichen. Klimaforscher sagen in den nächsten Jahrzehnten mehr Starkregen-Ereignisse voraus. Bereits jetzt rauschen nach größeren Wolkenbrüchen bis zu 20.000 Liter pro Sekunde durch die Kanäle in Richtung Neureut.

Das ist etwa so viel Wasser wie in der angeschwollenen Alb in regenreichen Wochen. Karlsruhe hat breite unterirdische „Autobahnen“, dennoch ist man in der Stadtentwässerung auf der Hut.

Karlsruher Corona-Orakel: Omikron-Ausbreitung im Abwasser sichtbar

Auch die epidemiologische Erforschung des Abwassers ist ein wichtiges Zukunftsthema. Die stinkende Kloake, über die viele die Nase rümpfen, hat Badens Metropole in der Pandemie bundesweit einen Namen gemacht. Denn das Karlsruher Technologiezentrum Wasser (TZW) gehört zu den Vorreitern, wenn es darum geht, aus menschlichen Ausscheidungen einen Infektionstrend zu ermitteln.

Seine Experten messen dafür mithilfe des PCR-Verfahrens die Menge des Erbmaterials von Sars-CoV-2 in den Kanälen. „Wir haben den Delta-Anstieg vorhergesagt. Kurz vor Weihnachten beobachteten wir eine Verschiebung hin zur Omikron-Variante“, sagt der Chef der Mikro- und -Molekularbiologe am TZW, Andreas Tiehm.

Wir arbeiten daran, einzelne Hotspots erfassen zu können.
Andreas Tiehm, Mikro- und Molekularbiologe aus Karlsruhe

Gemeinsam mit seinem Team hat er das Verfahren soweit verfeinert, dass im Abwasser die Anteile von verschiedenen Mutanten nachweisbar sind, bislang noch bezogen auf ein größeres Gebiet. „Zurzeit arbeiten wir daran, einzelne Hotspots erfassen zu können“, erzählt Tiehm. „Das wird wichtig sein, wenn es weniger Infektionen gibt und man neue Ausbrüche schnell ermitteln muss.“

Laut dem Mikrobiologen hat das Karlsruher Corona-Orakel zur Akzeptanz der Messmethode in Deutschland viel beigetragen. Auf Basis der TZW-Erfahrungen startete im Februar die bundesweite Corona-Überwachung des Abwassers an 20 Pilotstandorten, die mit EU-Geldern gefördert wird. Auch das KIT koordiniert jetzt einen Projektverbund in diesem Bereich. Geprüft wird, ob und wie in Deutschland ein abwasserbasiertes Covid-19-Frühwarnsystem entstehen kann.

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