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Carsten Rees im Interview

Chef des Landes-Elternbeirats tritt ab und kritisiert die Schulpolitik

Der Landeselternbeirat wählt am 26. Juni einen neuen Vorsitzenden: Carsten Rees tritt ab, weil er inzwischen kein Kind mehr an der Schule hat. Im Abschiedsinterview mit den Badischen Neuesten Nachrichten übt der Neurobiologe aus Freiburg harte Kritik an Kultusministerin Susanne Eisenmann.

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Solche Zuwendung für den einzelnen Schülern ist Mangelware - diese Auffassung vertritt der scheidende Vorsitzende des Landesleternbeirats, Carsten Rees. Er ist überzeugt, dass deshalb der Erfolg oder Misserfolg eines Kindes heute so stark von den Eltern abhängt. Symbolfoto: dpa Foto: None

Der Landeselternbeirat wählt am 26. Juni einen neuen Vorsitzenden: Carsten Rees tritt ab, weil er inzwischen kein Kind mehr an der Schule hat. Im Abschiedsinterview mit den BNN übt der Neurobiologe aus Freiburg harte Kritik an Kultusministerin Susanne Eisenmann.

Oft hat er den Bildungspolitikern pointiert die Leviten gelesen, weil sie seiner Meinung nach das Bildungssystem „an den Rande des Bankrotts sparen“: Carsten Rees, Neurobiologe aus Freiburg, hat sechs Jahre lang als Vorsitzender den Landeselternbeirat (LEB) Baden-Württemberg geprägt, zuvor war er schon mehrere Jahre im Vorstand.

An diesem Freitag wird sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin gewählt. Rees tritt ab, weil seine Tochter die Schule beendet hat. Im Gespräch mit BNN-Redakteurin Elvira Weisenburger äußert sich der 58-Jährige zu Schulreformen, (Vor-)Urteilen gegenüber Eltern und Lehrern – und er skizziert, wie er sich ein ideales Bildungssystem vorstellt.

Wie sähe das schönste Abschiedsgeschenk aus, das Ihnen Frau Eisenmann machen könnte?

Rees: Ich weiß nicht, ob ich mir von ihr überhaupt etwas wünschen könnte, das unser Schulsystem zum Besseren wenden würde. Bei Frau Eisenmann habe ich die Hoffnung aufgegeben.

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Carsten Rees, Foto: None

Welche Erfahrungen haben denn zu dieser tiefen Enttäuschung beigetragen?

Rees: Frau Eisenmann hat uns Eltern aggressiv und konsequent ignoriert. Zum Thema Corona hat sie uns kaltgestellt. Wöchentlich redete ihr Ministerialdirektor mit Gewerkschaften, Lehrerverbänden, Schulbehörden – aber nicht mit uns. Nur bei einer Konferenz waren wir einbezogen. Und Ministerpräsident Kretschmann hat bis heute nicht auf unseren Beschwerdebrief reagiert.

Schlechte Note für das Land im Fach Fernunterricht

Und welche Note geben sie den Schulen im Land für den Fernunterricht in der Corona-Krise?

Rees: Im Durchschnitt eine 4,5 oder 5. Aber – es gibt Lehrer, die im Fernunterricht zu neuen Hochleistungen aufgelaufen sind. Deren Erfahrungen müssen wir den anderen Lehrern zur Verfügung stellen, denn sie müssen das Fernlernen auch erst lernen und einüben. Dafür wurden sie nicht ausgebildet. Ich habe da größte Sympathie für die Lehrer.

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Ihre privaten Computer müssen sie ja auch noch zur Verfügung stellen, das ist unglaublich! Wir müssen ihnen dankbar dafür sein, dass sie den Fernunterricht so überhaupt ermöglicht haben. Und für die Schulleitungen war die Krise tatsächlich Stress pur. Die schlechte Note gibt es also nicht wirklich für die Schulen, sondern für das Land, das die Schulen hier vielfältig im Regen stehen lässt.

Kritik an der "Internierung" von Hochbegabten

Häufig stehen Lehrer auch in der Kritik, weil sie angeblich zu viel oder zu wenig Leistung von den Kindern verlangen. Wo liegt denn aus Ihrer Sicht die Wahrheit?

Rees: Ich sehe immer noch das Problem, dass wir zu wenig fördern und zu wenig fordern. Auch die Begabtenförderung wird vernachlässigt. Da plant man ein Hochbegabten-Internat in Bad Saulgau, in dem die Hochbegabten sozusagen interniert werden. Besonders begabte Kinder müssten aber an jeder Schule im Land gefördert werden. Und generell brauchen wir mehr Individual--Pädagogik. Kinder kommen in die Grundschule mit einem großen Drang, etwas zu lernen. Es ist unsere Aufgabe, ihnen den Spaß daran zu erhalten – anstatt diesen Spaß mit einer Pädagogik des 19. Jahrhunderts zu verderben.

Die mit Abstand unglücklichste
Reform war der Weg zu G8

Sie haben in Ihrer Amtszeit mehrere Regierungen und Bildungsreformen erlebt. Welches waren die unglücklichsten Reformen an den baden-württembergischen Schulen?

Rees: Die mit Abstand unglücklichste Reform war der Weg vom neunjährigen zum achtjährigen Gymnasium – weil sie nicht pädagogisch begründet war, sondern von den Finanzministern und der Industrie bestimmt. Reines Schulwissen reicht aber nicht mehr aus. Es geht um eine umfassende Bildung. Heute sind die Deutschen in der Welt dafür bekannt, dass sie fast schon standardmäßig ein „Gap-Year“, ein Pausenjahr nach der verkürzten Schule, einlegen. Sie gehen ins Ausland, jobben, machen ein Freiwilliges Soziales Jahr.

Solche Erfahrungen können ja auch zur umfassenden Bildung beitragen, die Sie wünschen ...

Rees: Ja, aber wenn die Abiturienten nach dem G9 noch ein Jahr ins Ausland gingen, fände ich es noch besser. Wobei wir nicht die Rückkehr zum alten neunjährigen Gymnasium wollen, denn: ein Jahr länger schlechter Unterricht ist auch keine Lösung. Wir waren für ein Abitur im eigenen Takt – die Schüler könnten individuell in neun, acht oder achteinhalb Jahren das Gymnasium abschließen.

Das Ideal: Leistungen in Schreinern und Mathe gelten gleich viel

Wenn Sie das Schulsystem umbauen dürften – wie sähe die ideale Lösung aus?

Rees: Dieses streng gegliederte Schulsystem ist jedenfalls nicht die Lösung. Am gemeinsamen Lernen bis mindestens Klasse sechs geht kein Weg vorbei. Wir können nach der vierten Klasse keine valide Aussage über den Bildungsweg eines Kindes machen. In Neuseeland zum Beispiel, das eine erfolgreiche Bildungsnation ist, bleiben die Jugendlichen bis zum Schluss an einer gemeinsamen Schule. Die haben dort ein starkes Kurssystem – der Eine geht in die Holzwerkstatt, der Andere in den Analysis-Kurs. Dort sind auch gute Leistungen beim Schreinern genauso geachtet wie gute Leistungen in Mathe. Kombinieren würde ich so ein Schulsystem mit unserem Dualen System der Berufsausbildung, das wirklich sehr gut ist.

Begriffe wie Helikopter-Eltern
werden von Buchverlagen gepuscht

Sie vertreten die Eltern – und die stehen oft nur als Helikopter-Eltern oder als Vernachlässigungsfamilien im Zentrum der öffentlichen Debatten. Welche Schieflagen und neueren Entwicklungen beobachten Sie in den Elternhäusern?

Rees: Begriffe wie Helikopter-Eltern oder Raben-Eltern sind auch Polemiken, die von Verlagen gepuscht werden, die ihre Bücher verkaufen wollen. Es gab immer schon sehr behütete und andere Kinder. Offenkundig aber ist, dass der Erfolg der Kinder heute sehr stark vom Erfolg der Eltern, von deren Geldbeutel und Buchregalmetern abhängt. Der Nachhilfe-Markt explodiert – das muss man sich erst einmal leisten können.

Völlig genervte und sehr entspannte Familien

In den 60er- bis 80er-Jahren haben allerdings sehr viele Kinder von Arbeitern und Nichtakademikern problemlos das Abitur und ein Studium bewältigt. Wie erklären Sie sich das?

Rees: Das war damals ein millionenfacher Bildungsaufbruch. Da hat man sich auf Lehrerseite sehr viel mehr bemüht. Das geht in den letzten Jahren wegen der vielen Unterrichtsausfälle gar nicht mehr. Und die Ausfälle können von bildungsaffinen Elternhäusern eher aufgefangen werden. Die Corona-Krise zeigt gerade alle Probleme wie in einem Brennglas. Sehr viele Eltern sind völlig entnervt. Aber es gibt auch Familien, die in der Krise sehr entspannt sind, weil sie es sich leisten können. Die Verhältnisse gehen extrem auseinander.

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