Viele kennen die alte Legende aus Persien mit dem Schachbrett und den Reiskörnern noch aus ihrer Schulzeit: Mathematik, Mittelstufe. In diesen Coronavirus-geplagten Tagen, da die Zahl der Infizierten auch hierzulande nahezu stündlich steigt, verdient sie es, noch einmal erzählt zu werden. Die Geschichte könnte nämlich dabei helfen, die im Wesentlichen unsichtbare Gefahr greifbarer zu machen.
Sie geht so: Ein kluger Höfling schenkte seinem König einst ein kostbares Schachspiel und hatte daraufhin einen Wunsch frei. Er bat zur Verwunderung des Herrschers um nichts weiter, als dass man das Schachbrett mit Reis belegen möge: auf das erste Feld sollte ein Korn kommen, auf das zweite zwei und auf die weiteren immer doppelt so viele wie auf dem vorherigen Feld.
Neun Trillionen Reiskörner auf dem 64. Schachfeld
Die Diener, denen die Erfüllung des scheinbar bescheidenen Wunsches aufgetragen wurde, mussten bald feststellen, dass im gesamten Reich, ja nicht einmal auf der ganzen Welt genügend Reis vorhanden war, um das Brett entsprechend zu füllen.
Bereits auf dem 21. Feld müssten mehr als eine Million Körner Platz finden, auf dem 64. und letzten Feld wären es unfassbare neun Trillionen – eine Neun mit 18 Nullen.
Eine Dynamik, die sich selbst beschleunigt
Ein sagenhaftes Wachstum, dessen Prinzip auch bei der Verbreitung des Coronavirus gnadenlos zuschlägt. Auch hier sind die Fallzahlen zu Beginn überschaubar und steigen zunächst nur langsam an, doch irgendwann nimmt der Prozess unheimlich an Fahrt auf – und schließlich schießen die Werte durch die Decke.
Zu beobachten etwa in Italien, als die Zahlen von zunächst nur mehreren hundert Erkrankten Ende Februar innerhalb weniger Tage auf über Zehntausend in die Höhe schossen. Exponentielles Wachstum sagen die Mathematiker dazu. Das Besondere daran: Der Zuwachs hängt vom aktuellen Bestand ab, das heißt je mehr schon da ist, umso mehr kommt neu hinzu. Eine Dynamik, die sich selbst beschleunigt und irgendwann kaum noch zu stoppen ist.
Corona-Infektionen in Deutschland
Für den Menschen nicht zu fassen
Das entscheidende Problem an der Sache: Der menschliche Verstand ist nicht dafür gemacht, exponentiell wachsende Prozesse in ihrem gesamten Ausmaß zu erfassen. Was uns tagtäglich begegnet, verändert sich entweder linear – Aktenberge, brennende Kerzen, wachsende Bäume, volllaufende Badewannen – oder nur ziemlich langsam exponentiell, etwa bei der Verzinsung eines Kapitals oder bei der Inflationsrate.
Die Folge: Wir haben kein Gefühl für exponentielle Zuwächse und unterschätzen diese massiv. Bei der Schachbrett-Legende mag dies ja noch ziemlich harmlos sein und am Ende zu einem netten Aha-Effekt führen, bei der Corona-Pandemie ist die Wirkung jedoch verheerend. Denn die Gefahr zeigt sich erst dann in ihrer vollen Größe, wenn es eigentlich schon zu spät.
Verdopplungszeit des Coronavirus als wichtiges Kriterium
Ein Maß dafür, wie schnell die Zahl der Infizierten wächst, ist die Zeitspanne, in der sich deren Zahl verdoppelt, auch Verdopplungszeit genannt. Für Deutschland betrug diese am Mittwochnachmittag rund dreieinhalb Tage. Angenommen, das Wachstum ginge in den kommenden Wochen ungebremst so weiter, wäre bereits Mitte April hierzulande die Millionen-Grenze überschritten.
Genau deshalb werden Politiker und Gesundheitsexperten dieser Tage nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, den Anstieg abzubremsen. „Es geht darum, das Virus auf seinem Weg durch Deutschland zu verlangsamen“, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch bei ihrer Fernsehansprache.
Warum unterscheiden sich die Zahlen der Corona-Infizierten so sehr?
Woher stammen sie eigentlich, die Zahlen, die uns in der medialen Berichterstattung über Corona täglich begegnen? Die Werte aus Deutschland liefert das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin, das diese mittlerweile täglich um Mitternacht aktualisiert und sie am Vormittag online noch einmal auf den neuesten Stand bringt. Das RKI liefert dabei auch Zahlen zu den einzelnen Bundesländern, seit Dienstag aber nur noch laborbestätigte Fälle, die von den Gesundheitsämtern elektronisch übermittelt wurden.
Internationale Zahlen trägt die Weltgesundheitsorganisation WHO mit Sitz in Genf zusammen, aber auch die John Hopkins Universität in Baltimore/USA. Diese nutzt Werte der WHO, der US-amerikanischen Center for Disease Control and Prevention (CDC) und weiterer Quellen.
Die Zahlen der verschiedenen Organisationen weichen zum Teil voneinander ab. Dies liegt zum einen daran, dass die Werte zu unterschiedlichen Zeitpunkten bestimmt wurden. Zum anderen kommt es aber auch darauf an, was genau in den Blick genommen wird: die Zahl aller bisher Infizierten (inklusive derer, die bereits wieder gesund sind), die Zahl der aktuell Infizierten oder die Zahl der Neuinfizierten am jeweiligen Tag.
#Flattenthecurve geht durchs Netz
Seit Tagen kursiert zudem im Netz der Hashtag #Flattenthecurve, also „die Kurve abflachen“, was sich auf die Zahl der Neuinfizierten bezieht. Und diese dürfte um ein Vielfaches höher sein als gemeinhin bekannt – Stichwort Dunkelziffer.
Bei nicht wenigen macht sich die Krankheit so gut wie gar nicht bemerkbar. Ansteckend sind diese Infizierten trotzdem und tragen so dazu bei, das Wachstum zu beschleunigen.
Exponentiell kann sich ein Bestand auf dieser Welt nicht bis in alle Ewigkeit weiter vergrößern, schließlich sind die irdischen Ressourcen begrenzt.
Wie beim Reis auf dem Schachbrett: Der Platz ist begrenzt
Das scheint eine gute Nachricht zu sein, doch erst einmal heißt das nur: Die Corona-Kurve flacht dann mit Sicherheit ab, wenn es schlichtweg nicht mehr genug Menschen gibt, die noch nicht infiziert waren. Solange zu warten, wäre fatal, denn schließlich sind auch die Ressourcen im Gesundheitssystem bekanntlich begrenzt.
Noch wichtiger als die Gesamtzahl der Erkrankten zu reduzieren, ist es also, dafür zu sorgen, dass nicht zu viele Menschen zur selben Zeit betroffen sind und ärztliche Hilfe benötigen. Letztlich ist es wie beim Schachbrett und dem Reis: Irgendwann passen nicht mehr alle Körner auf ein Feld.