Wie sähe es wohl heute in der Rheinregion aus, wenn sich der Vater von Johann Gottfried Tulla durchgesetzt hätte? Pfarrer soll der Sohn einmal werden – so wie er selbst. Das steht für den Kirchenmann fest. Nein, dass der zarte Knabe einmal den Rhein bändigen wird, ist ihm nicht in die Wiege gelegt, als er am 20. März 1770 in Karlsruhe zur Welt kommt.
Der Ingenieur legte Malaria-Brutstätten am Rhein trocken
Hätte der junge Tulla tatsächlich auf Gott gesetzt, anstatt Ingenieur zu werden, dann würde die Karlsruher Elite-Universität heute vermutlich so nicht existieren. Die pfälzische Industriestadt Ludwigshafen stünde nicht auf der Landkarte. In den badischen Rheinauen würden mancherorts nur Reste verlassener Bauerndörfer verrotten, wo heute stattliche Einfamilienhaussiedlungen stehen. Und wer weiß, wie lange die Malaria ihre ahnungslosen Opfer dahingerafft hätte? „Die meisten Menschen wissen ja gar nicht mehr, dass es Malaria auch am Rhein gab“, sagt der Hamburger Filmemacher Peter Bardehle.
„Und zu Tullas Zeit wusste man nicht, dass Stechmücken die Krankheit übertragen.“ Die Menschen machen damals die Ausdünstungen der Sümpfe für ihr Leiden verantwortlich. Deshalb erhält das „Sumpffieber“ den Namen Malaria, vom italienischen „Mala Aria“ (schlechte Luft). Regisseur Bardehle fasziniert seit langem, wie Tulla seine kühne Idee der Rheinbegradigung durchsetzte. Zum 250. Geburtstag des Ingenieurs hat er die Spielfilm-Doku „Der Flussbaumeister“ gedreht. Im Fernsehen ist sie voraussichtlich im Mai bei Arte zu sehen, im Herbst beim Südwestrundfunk.
Erste Filmausschnitte sind in diesem Trailer zu sehen:Steffen Schroeder als willensstarker Titelheld
Kino-Premiere sollte eigentlich an Tullas Geburtstag nächsten Freitag unter dem Motto „Tullas Traum“ in der Karlsruher „Schauburg“ gefeiert werden – aus Respekt vor der Corona-Pandemie ist sie nun auf den Herbst verschoben. Historien-Fans dürfen ihre Vorfreude hegen. Der Film erzählt facettenreich, wie der „geniale“ Tulla die Landschaft umpflügt, Bauland und fruchtbares Ackerland gewinnt, die Schifffahrt fördert – und nebenbei große Malaria-Brutstätten, aber auch einzigartige Biotope, trockenlegt. Spielfilmszenen und Experten-Interviews wechseln sich ab.
„Tulla war ein normaler Mann aus dem Volk. Wie er mit der Förderung eines klugen Landesfürsten, aber auch gegen viele Widerstände, seine Vision verwirklichte, ist beeindruckend“, meint Bardehle. Für die Hauptrolle engagierte er Steffen Schroeder, bekannt aus der Serie „Soko Leipzig“. Nun spielt der Fernseh-Kommissar den obersten Wasserbaudirektor Badens.
Ein Sarg treibt auf dem unbezähmten Rhein
„Die dauernden Kapriolen und Überschwemmungen müssen ein Ende haben!“, ruft Tulla im Film. „Wir müssen dem Rhein ein Bett bereiten.“ Alle paar Jahre zwingt der wilde Strom damals Bauern dazu, ihre Häuser zu versetzen. Es kommt vor, dass Friedhöfe unterspült werden. Im Film gibt es eine solche Szene: Ein Fischer bekreuzigt sich, als ein Holzsarg den Rhein hinab treibt. Doch gerade die einfachen Leute rebellieren gegen Tullas Bauvorhaben.
1817/18 wird es brenzlig. Tulla lässt in Knielingen bei Karlsruhe den ersten Durchstich machen. Bauern proben den Aufstand. Soldaten müssen anrücken. „Wovon solle mir lebe?“, schreit ein badischer Bauer im Film. Denn klar ist: Die Weidegründe vor der großen Rheinschlinge sind verloren, sobald das neue Rheinbett gegraben ist. Sie liegen dann unerreichbar am anderen Ufer, in der Pfalz. „Es war nicht ganz geklärt, wie die Menschen für dieses Land entschädigt werden sollten“, erklärt die Rastatter Historikerin Nicole Zerrath, die im Film mitwirkt. „Tulla war deswegen verzweifelt.“
Rebellische Knielinger müssen bezahlen
Ob damals ein Schuss gefallen ist? Niemand weiß es. Sicher aber ist: „Die Knielinger mussten auch noch die Kosten für die Militär-Einquartierung bezahlen“, sagt Zerrath.
Allerdings verwandelt sich die Wut der Knielinger bereits 1824 in Dankbarkeit. „In jenem Jahr gab es sehr viele Regenfälle – und die Orte am begradigten Lauf sind vom Hochwasser verschont geblieben“, weiß Zerrath.
Es war ein genialer Schachzug,die Kraft des Flusses selbst graben zu lassen.Christian Damm, Experte des Aueninstituts
Zeitweise hätten 3.000 Männer an der Rhein-Baustelle gearbeitet. Als seinen „besten Arbeiter“ allerdings setzt Tulla den Rhein selbst ein: Beim nächsten Hochwasser soll der Strom jeweils den neuen Abschnitt seines Bettes ausputzen, vertiefen. „Es war ein genialer Schachzug, die Kraft des Flusses selbst graben zu lassen“, erkennt Christian Damm vom Aueninstitut des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) an.
Der Forscher arbeitet heute daran, die negativen Effekte von Tullas Rheinausbau zu lindern. „Er hat eine wunderbare Flusslandschaft umgekrempelt, heute würde man das nicht mehr so machen“, sagt Damm. „Aber aus damaliger Sicht war es das Richtige, um die Probleme der Zeit zu lösen – mit hervorragender Ingenieurstechnik.“
Tulla bringt neueste Messgeräte aus dem Ausland mit
Tulla ist Perfektionist. Er ist innovativ, bringt aus dem Ausland die neuesten Messgeräte mit. Der Markgraf und spätere Großherzog Karl Friedrich hat den begabten Pfarrerssohn in Vermessungstechnik, Mechanik, Wasserbau, Chemie ausbilden lassen, zu Gelehrten in die Fremde geschickt. Im napoleonischen Paris besucht Tulla 1801 die Ecole Polytéchnique – und überzeugt seinen Fürsten: „Wir brauchen so eine Ingenieurschule.“ Sechs Jahre später darf er in Karlsruhe selbst eine gründen.
Er gründet eine Vorläuferin des KIT
Oft hat Tulla mit Stadtbaumeister Friedrich Weinbrenner neidisch um Geld aus dem Staatssäckel konkurriert. Die Bauschule Weinbrenners und seine Ingenieurschule gehen später im Polytechnikum auf, einem Vorläufer der Elite-Uni KIT.
Im verbündeten Frankreich lernt Tulla auch das neue Maß der Dinge kennen: den Meter. 60 Jahre bevor das Deutsche Reich die Maßeinheit einführt, verwendet er sie für eine Grenzfluss-Karte. In Baden misst man da noch mit menschlichen Gliedmaßen: Elle und Fuß.
Rätsel um sein Privatleben und seinen Tod
Begraben ist Tulla in Paris. Am 28. März 1828 stirbt er dort – 58 Jahre alt, alleinstehend, ohne Vermögen. Sein Privatleben gibt Rätsel auf. „Wir wollten eine Frauengeschichte einbauen, haben aber nichts gefunden“, erzählt Filmemacher Bardehle. Warum, bleibt Tullas Geheimnis. „Wir wissen nicht, ob er sich für Frauen gar nicht interessierte – oder ob er es vor lauter Arbeit nur verpasste, eine Familie zu gründen“, sagt Zerrath.
Reine Spekulation sei auch die Todesursache, die oft genannt wird: Malaria. „Überliefert ist nur, dass er am Ende Atemnot bekam“, betont Zerrath. Tulla war nach Paris gereist, um seine Blasensteine bei einem Spezialisten entfernen zu lassen. Er leidet Höllenqualen nach den Eingriffen. „Es ist denkbar, dass es zu Entzündungen kam“, sagt Zerrath. Tullas Lebenswerk vollenden seine Nachfolger – Jahrzehnte später.