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Der Weg in den Stillstand

Die Krise und wir - wie Corona nach Baden kam und die Welt aus den Fugen hob

Im Februar regten sich die Menschen in der Region darüber auf, dass das neue Wildparkstadion teurer werden würde. Und ein Café, das Müttern das Stillen untersagte, erhitzte die Gemüter. Heute geht niemand mehr in Cafés – und Fußball wirkt wie ein Relikt aus sorglosen Zeiten. Die Welt ist in der Krise. Wie genau ist das passiert – und was passiert jetzt mit uns?

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Anderthalb Meter trennen ein ganzes Land: Rückt die Krise uns zusammen - oder auseinander? Foto: Tanja Mori Monteiro

Eigentlich schienen die Schlagzeilen nicht besonders spektakulär: Ein neues Virus in Fernost, in einer Gegend, in der die meisten Menschen hier nie einen Fuß gesetzt hatten. Die ersten Nachrichten über das neuartige Coronavirus drangen Ende 2019 aus China in die Welt.

Die war gerade damit beschäftigt, Weihnachten zu verdauen und das neue Jahr in Empfang zu nehmen. Sorgen machten sich vielleicht ein paar Skilift-Betreiber im Schwarzwald, weil weit und breit kein Schnee in Sicht war . Und wahrscheinlich ärgerten sich ein paar Leute, weil an vielen öffentlichen Plätzen Silvesterfeuerwerke untersagt waren.

Krankheiten aus Fernost gab es immer wieder mal. Sars, die Vogelgrippe H5N1 – alles bedrohlich. Und vor allem: alles weit weg. Nichts, was den Gesellschaften des Westens gefährlich geworden war.

Das merkwürdige Gefühl der Unverwundbarkeit

Deren Bewohner, so sieht es die Münchner Sozialpsychologin Angela Kühner, hatten sich darüber eine merkwürdige Vorstellung der Unverwundbarkeit zugelegt. „Die Idee, Dinge im Griff zu haben und kontrollieren zu können, ist in unserer Gesellschaft stark ausgeprägt“, sagt die Wissenschaftlerin der Internationalen Hochschule IUBH . Dabei seien doch gerade Unberechenbarkeit und Ungewissheiten charakteristisch für das Leben.

Lange aber gingen solche Erfahrungen kaum über den Horizont des Individuums oder kleiner Gruppen hinaus. Anfang Januar zerstörte ein Feuer das Sterne-Restaurant Traube Tonbach in Baiersbronn – für die Betreiber und die Mitarbeiter sicher ein einschneidendes Erlebnis.

Im Februar legte der Wintersturm „Sabine“ das Land für ein Wochenende lahm . Stillstehende Züge und gesperrte Straßen – damals wahrscheinlich die größten vorstellbaren Komplikationen, die das Land heimsuchen konnten.

Es gab Zeiten, da ging Corona im Alltag unter

Das Coronavirus hatte da schon den Weg von China nach Thailand gefunden. Die Bundeswehr evakuierte deutsche Staatsbürger aus der Wuhan, in der Südpfalzkaserne in Germersheim wurde eilig eine Isolierstation eingerichtet . Es gab ein paar bestätigte Fälle in Bayern, dazu Verdachtsfälle in Pforzheim oder Heidelberg. Kaum mehr als Kollateralschäden der Globalisierung.

Bislang gibt es schlicht noch gar nichts, vor dem man sich schützen könnte

Ein Karlsruher Amtsarzt im Januar 2020

Angesichts erster Hamsterkäufe von Klopapier und Schutzmaterialien riefen Politiker und Experten in Deutschland zur Besonnenheit auf.

Ulrich Wagner, Arzt beim Karlsruher Gesundheitsamt, sprach Ende Januar von einer nicht passenden Risikowahrnehmung : „Bislang gibt es schlicht noch gar nichts, vor dem man sich schützen könnte.“ Die Wahrnehmung der Krankheit sei möglicherweise spektakulärer als die Krankheit selbst, schätzte der Mediziner – unter ausdrücklichen Verweis auf den damals aktuellen Kenntnisstand.

Dass die Einschläge näher kamen, ging im Lärmpegel des Alltäglichen lange unter. Alois Schwartz flog beim KSC raus , das Café Brenner in Karlsruhe setzte zwei stillende Mütter vor die Tür . In Baden-Baden zeigte die Bürokratie ihre Zähne, weil ein Bauer sein Haus grün strich . Es wurde sogar Spargel gestochen .

Und noch Ende Februar – da war das rheinländische Heinsberg schon abgeriegelt - lenkten die Fans des FC Bayern mit einem Schmähplakat gegen Dietmar Hopp die öffentliche Aufmerksamkeit tagelang auf den schwelenden Konflikt zwischen Fußballverbänden und Fanszenen.

Keine zwei Wochen später spielte niemand mehr Fußball .

Drei Wochen wie im Zeitraffer

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht angesichts dieser Entwicklungen von „offenbar luxurierenden Zeiten“, die im März fast wie im Zeitraffer ihr Ende fanden.

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Der Politologe Herfried Münkler. Foto: Soeren Stache/dpa

Im Gespräch mit unserer Redaktion diagnostiziert Münkler eine einschneidende Krise, die die Gesellschaft befallen habe – und zwar auf gleich zweierlei Weise: „Die staatlichen Eingriffe in unser Leben stellen eine Krise unserer gewohnten Lebensführung dar“, beschreibt Münkler. Und zugleich sei da noch eine Krise der Strukturen, die unsere Lebensführung ermöglichen – die Wirtschaft und das öffentliche Leben.

Vollzogen hat sich diese doppelte Krise im Wesentlichen binnen dreier Wochen. Den ersten Corona-Fall in der Region vermeldete Karlsruhe am 28. Februar . Spätestens ab dem Zeitpunkt trieb das Virus, Politiker, Behörden und Experten auch in der Region vor sich her.

Die Zahl der Infektionen wuchs täglich. Am 6. März musste ein Gymnasium in Lahr wegen zweier Coronafälle schließen . Am 7. März riegelten die Behörden das Ortenau Klinikum in Kehl wegen einer Infektion ab.

Kaum vorstellbare Dinge wurden zu Fußnoten

Praktisch im kleinen Maßstab nahm die Leitung des Klinikverbundes daraufhin den vorläufigen Höhepunkt vorweg, auf den das Land zusteuerte: Für die anderen Standorte des Klinikums wurden drastische Kontaktbeschränkungen erlassen. Andere Krankenhäuser folgten diesem Beispiel - was in Baden-Baden und Rastatt Auseinandersetzungen zwischen Besuchern und Sicherheitspersonal zur Folge hatte.

Am 8. März riegelte Italien seine nördlichen Landesteile ab . Am Mittwoch, den 11. März, erklärte das Robert-Koch-Institut das Elsass zum Risikogebiet. Zwei Tage später teilte das Land Baden-Württemberg mit, Schulen und Kitas zu schließen . Am 16. März waren die deutschen Außengrenzen praktisch dicht. Und am 22. März verkündete Angela Merkel weitreichende Ausgehbeschränkungen.

Zuvor kaum vorstellbare Dinge – etwa der Produktionsstopp bei Daimler und die Absage von Olympia – blieben in dieser Dynamik kaum mehr als Fußnoten.

Immer aktuell: Karten zeigen alle Coronavirus-Fälle in Deutschland und Baden-Württemberg

Die ungekannte Schnelligkeit der Politik

Im Sog der Ereignisse erlebte der Staat gewissermaßen eine Art Wiederauferstehung. Zwar verlief der Weg in den Stillstand nicht ohne Reibungen zwischen den Bundesländern – in der Rückschau allerdings könne man durchaus von einer „Stunde der Exekutive“ sprechen, befindet Herfried Münkler. In der Krise sei die Initiative bei den Regierenden und damit potenziell auch die Gunst der Bevölkerung.

„Angesichts des Ausnahmezustandes, der zwar nicht ausgesprochen ist, aber faktisch herrscht, kann die Politik derzeit Dinge in einer beeindruckenden und ungekannten Geschwindigkeit in die Wege leiten und durchsetzen“, sagt Münkler.

Wir befinden uns in einem Experiment, in dem die Regierung Entscheidungen fällen muss, ohne zu wissen, wie tragfähig die Grundlagen dafür sind.

Herfried Münkler, deutscher Politikwissenschaftler

So sei die Abkehr von der Politik der schwarzen Null praktisch im Vorbeigehen vollzogen worden – wie übrigens auch die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes, um die tiefgreifenden Beschränkungen der Freiheitsrechte auf eine tragfähige Rechtsgrundlage zu stellen.

Inwiefern die Krise langfristig zu einer Aussöhnung von Politik und Bevölkerung führen könne, sei aber offen: „Derzeit können wir darauf hoffen, dass die optimistischen Szenarien zutreffen und wir bei einer Verlangsamung der Infektion schnell wieder die Wirtschaft hochfahren können“, sagt Münkler.

Zerschlage sich diese Hoffnung, dürfte die Kritik an den Maßnahmen lauter werden – und die Akzeptanz des politischen Handelns brüchiger. „Wir befinden uns derzeit in einem Experiment, in dem die Regierung Entscheidungen fällen muss, ohne zu wissen, wie tragfähig die Grundlagen dafür sind", schildert Münkler den Status quo.

Selbst die Jugend hält sich plötzlich an Verbote

Unbestreitbar ist die Krise, die Corona nach sich zieht, allumfassend. Die Einkaufsstraßen der Städte sind leer, Kneipen und Cafés geschlossen. Viele Unternehmen geraten in Schieflage . Weder Schüler noch Lehrer wissen genau, wie sie das Schuljahr zu Ende bringen werden.

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Die Formel der Stunde: Plötzlich endet jedes Gespräch und jeder Mailverkehr mit dem gegenseitigen Wunsch nach Gesundheit. Foto: poem

Im Elsass reichen die Beatmungsplätze nicht aus für die Zahl der an Covid-19-Erkrankten und in Deutschland arbeitet das medizinische Personal mehr denn je jenseits des Limits.

Als die ersten Ausgehbeschränkungen in Kraft traten, vermeldete die Polizei in verschiedenen Städten die Auflösung verbotener Corona-Parties von Jugendlichen . Die Schlagzeilen darüber erhitzten die Gemüter. Mittlerweile feiern auch die Jugendlichen nicht mehr , was wohl vernünftig ist - aber auch ein Indiz für den Ernst der Lage.

Bringt die Krise Antworten auf Fragen, die wir schon lange hatten?

Tatsächlich, diese Beobachtung macht die Sozialpsychologin Angela Kühner, reift in den Köpfen der Menschen die Ahnung, wie unabsehbar die gegenwärtige Situation ist. „Landmarken, nach denen wir unser Leben eigentlich ausrichten, verschwimmen“, sagt sie.

Für den einen sei bislang vielleicht nur der jährliche Urlaub in Gefahr, andere müssten bereits um ihre Existenz fürchten. „Es herrscht eine eigentümliche Starre, in der das Bewusstsein für unsere Verletzbarkeit und die unserer Lebensweise wächst.

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Kühner glaubt, das müsse nicht unbedingt schlimm sein. „Es kann schon sein, dass die Pandemie uns dazu zwingt, als Gesellschaft Antworten auf Fragen finden zu müssen, die ohnehin schon lange gestellt werden.“ Die Krise führe etwa vielen Menschen vor Augen, wie unwichtig Fernreisen sein können und wie einfach Arbeit aus dem Homeoffice möglich ist.

Läuft die Sache glimpflich ab, sagt Kühner, könne uns Corona die eigentlich banalen Dinge des Lebens wieder mehr schätzen lassen: Ein Bier in der Kneipe, ein Fußballspiel im ausverkauften Stadion, ein Familienspaziergang zum nächsten Spielplatz.

In jedem Fall aber, glaubt sie, werde er im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft noch lange nachwirken -  dieser Frühling, in dem die Menschen von den Straßen verschwanden.

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