Kaum ein Monat ist derart vollgepackt mit Kulturfestivals wie der Mai. Nach den Rundum-Absagen im vergangenen Jahr wird nun allerorten ein neuer Anlauf genommen - freilich fast ausschließlich digital.
Am Wochenende gingen der 38. Heidelberger Stückemarkt (Freitag), die 75. Ruhrfestspiele Recklinghausen (Samstag) und am Sonntag auch die 25. Europäischen Kulturtage (EKT) Karlsruhe an den Start.
Das Karlsruher Festival bespielt zwei Wochen lang diverse Internetkanäle, was dem Programm einen potenziell weiteren Zuschauerkreis als sonst eröffnet.
Bürgermeister mit humanitärem Einsatz
Die überregionale Ausrichtung des Themas „Europa - ein Versprechen“ bündelte sich in der Person des Festredners zur Eröffnung: Leoluca Orlando steht als Bürgermeister der sizilianischen Stadt Palermo in der seit Jahren diskutierten Flüchtlingsfrage gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen Afrika und Europa. Für seinen humanitären Einsatz sowie für seinen konsequenten Kampf gegen die Mafia hat er unter anderem das Große Bundesverdienstkreuz erhalten.
Für mich gibt es nur eine Rasse: die menschliche. Und acht Milliarden Identitäten.Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo
Seine Rede, die per Video in den Youtube-Stream der Eröffnung aus dem Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) eingebunden wurde, hob als eindringlicher Appell den Wert universeller Menschenrechte hervor. In Palermo unterscheide man nicht zwischen Bürgern und Migranten.
Jeder, der dort lebe, habe die gleichen Rechte. Alle Menschen seien gleichberechtigt und zugleich unterschiedlich, erklärte Orlando in seiner auf Deutsch gehaltenen Rede: „Für mich gibt es nur eine Rasse: die menschliche. Und acht Milliarden Identitäten.“
Der lange Weg zum Wandel
Wie stark sich eine Gesellschaft hin zum Sinn für Gemeinschaft wandeln kann, erläuterte Orlando anhand der eigenen Erfahrung des jahrzehntelangen Kampfes gegen die Mafia.
Der hier erfolgte Wandel habe Palermo stärker verändert als jede andere Stadt in Europa: „Auch Berlin, Prag und Moskau haben sich stark verändert, aber das waren Konsequenzen aus übergeordneten geopolitischen Ereignissen“, so Orlando. „Palermo hat sich geändert, weil die Bürger es wollten.“
Ein Populist ist, wer keinen Respekt vor der Zeit hat.Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo
Einst sei die Stadt von der Mafia regiert worden, mittlerweile sei sie statistisch die sicherste Metropole Italiens. Doch der Weg habe seine Zeit gebraucht: rund 40 Jahre.
„Hätten wir 1980 versprochen, unsere Straßen in wenigen Wochen von der Mafia zu befreien, wären wir Populisten gewesen“, erklärte Orlando in seiner auf Deutsch gehaltenen Rede. „Ein Populist ist, wer keinen Respekt vor der Zeit hat.“
Europa als permanenter Prozess
Dass das europäische Versprechen ein permanenter Prozess sei, merkte auch Karlsruhes Oberbürgermeister Frank Mentrup in seinem Grußwort an. „Es bleibt unsere Aufgabe, immer zwischen dem Recht des Einzelnen und den Möglichkeiten des Gesellschaftlichen auszuloten, was Europa ausmacht.“
Das Zusammenspiel von Einzelnem und Gemeinschaft spiegelte sich gewissermaßen auch im musikalischen Eröffnungsbeitrag. Iannis Xenakis’ Komposition „Persephassa“ ist eigentlich darauf angelegt, durch die Anordnung von sechs Schlagzeugen im Raum die Musik als individuelles Erlebnis zu vermitteln, indem je nach Sitzposition für jeden Zuhörer andere Nuancen in den Vordergrund treten.
Dieser Aspekt fiel bei der eingespielten Filmfassung zwar notgedrungen weg. Ein Erlebnis war die Aufführung durch den Musikhochschul-Professor Isao Nakamura und fünf Schlagzeug-Studierende dennoch. Zu recht mutmaßte ein Zuschauer in der Kommentarspalte des Livestreams: „Jetzt geht’s ab!“
Musik so vielstimmig wie Europa
Die vitale Mischung aus vibrierenden Rhythmen, singend nachhallenden Pauken, pulsierender Perkussion und spielerischer Präzision vermittelte den großen Klangreichtum und die hohe Individualität vieler unterschiedlicher Schlaginstrumente. In seiner dynamischen Vielstimmigkeit lässt sich das Werk auch als klangliche Illustration Europas deuten.
An eine Zeit, in der Einzelne sich vor der Gemeinschaft verstecken mussten, erinnert der nächste Programmpunkt des Festivals an diesem Montag ab 19 Uhr: Die Mono-Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“, die eigentlich vor einem Jahr am Staatstheater Bühnenpremiere haben sollte, wird von Regisseur Patric Seibert nun filmisch umgesetzt, wobei die Inszenierung nicht auf eine historische Abbildung zielt, sondern sich der Frage widmet, wie die junge Generation der Gegenwart sich mit der Zeit der Naziherrschaft auseinandersetzt.
Service
Die Europäischen Kulturtage dauern bis zum 16. Mai. Programmübersicht unter www.europaeische-kulturtage.de. Der Film zur Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“ ist am 3., 11. und 13. Mai jeweils ab 19 Uhr für je 24 Stunden abrufbar. Alle Videoangebote sind zu finden unter www.karlsruhe.de/ekt-tv.