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„Selbst in der Hand”

Experten rechnen nicht mit zweiter großer Corona-Welle

Alle reden derzeit von der möglichen zweiten Corona-Welle. In der Debatte vermengen sich politisch motivierte Spekulationen mit Prognosen auf einer dünnen Faktenbasis. Die von den BNN befragten Experten rechnen nicht mit einem erneuten Corona-Tsunami, eher mit mehreren kleinen „Wellen“ aus begrenzten Infektionsausbrüchen.

Corona-Hotspot Gütersloh
Corona ist in Deutschland noch lange nicht besiegt, warnen die Experten. Sie plädieren für eine Ausweitung von Tests. Foto: Guido Kirchner/dpa

Alle reden derzeit von der möglichen zweiten Corona-Welle. Diese wird unterschiedlich definiert.

Die von den BNN befragten Experten rechnen nicht mit einem erneuten Corona-Tsunami, eher mit mehreren kleinen „Wellen“ aus begrenzten Infektionsausbrüchen. Sie sehen das Gesundheitssystem dafür grundsätzlich gut gerüstet.

Markus Söder ist zuversichtlich pessimistisch, was die Corona-Perspektiven angeht. „Dass es eine zweite Welle gibt, da bin ich ganz sicher“, sagt Bayerns Ministerpräsident. Die Kanzlerin ist da zurückhaltender. Sie sei zufrieden, stellte Angela Merkel kürzlich klar, dass die Zahl der Infektionen konstant bleibe und dass man von einer exponentiellen Entwicklung weit entfernt sei.

Manche Experten, wie der bekannte Virologe Hendrik Streeck halten einen erneuten, raschen Anstieg der Sars-CoV-2 Infektionen im Herbst für unwahrscheinlich. Wer hat also Recht?

Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. In der Debatte über die zweite Welle vermengen sich derzeit politisch motivierte Spekulationen mit Prognosen auf einer dünnen Faktenbasis, die später revidiert werden. Zudem wird die Welle unterschiedlich definiert.

Die von den BNN befragten Experten rechnen nicht mit einem erneuten Corona-Tsunami, eher mit mehreren kleinen „Wellen“ aus begrenzten Infektionsausbrüchen. Sie sehen das Gesundheitssystem dafür grundsätzlich gut gerüstet.

Corona-Krise: Virologe Hengel hält alles für möglich

„Ob es eine große Corona-Welle geben wird, nur vereinzelte Ausbrüche oder eine flächendeckende Virusaktivität auf einem konstanten Niveau, darüber entscheiden viele verschiedene Faktoren“, sagt der Freiburger Virologe Hartmut Hengel. Er zählt dazu etwa das Verhalten der Bevölkerung und die Auswirkungen von Temperaturen auf das Virus.

„Es kann alles passieren. Eine zweite Welle kann sich offensichtlich dann entwickeln, wenn sich Menschen eng beisammen in geschlossenen Räumen aufhalten, keine effektiven Schutzmaßnahmen ergriffen werden und keine sofortige Nachverfolgung stattfindet.“ Als einen großen Risikofaktor nennt Hengel derzeit „gekühlte Schlachthöfe, wo die Menschen ohne eine ausreichende Distanz harte körperliche Arbeit leisten“.

Corona-Immunität ist noch sehr gering

Der Präsident der Gesellschaft für Virologie findet es wichtig, dass die Corona-Warn-App technisch weiter verbessert und von vielen Menschen genutzt wird. „Wir haben es selbst in der Hand, wie wirksam sie sein wird“, sagt Hengel. Er warnt, dass die meisten Gesundheitsämter in Deutschland nach derzeitigem Stand nicht in der Lage wären, im Fall einer großen Corona-Welle den Infektionsketten gezielt nachzugehen.

Hengel schätzt die Immunität gegen das Virus noch als sehr gering: „Die allermeisten Menschen, 98 Prozent der Bevölkerung, sind empfänglich für die Infektion.“ Der Virologe sieht bislang keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass Sars-CoV-2 an Infektionskraft zugenommen hat und gefährlicher wird. Man müsse sich also nicht über mögliche Mutationen Sorgen machen, beruhigt er.

Karlsruher Klinikchef Spetzger hat Respekt vor Wellen

Der medizinische Geschäftsführer des Städtischen Klinikums Karlsruhe, Uwe Spetzger, hält lokale Corona-Ausbrüche weiterhin für möglich. „Eine neue Epidemiewelle könnte uns nur dann treffen, wenn man in Hotspots wie jetzt in Gütersloh, nicht reagiert“, urteilt er.

Wir sind gerüstet, um Ausbrüche früh zu erkennen.
Uwe Spetzger, Geschäftsführer des Städtischen Klinikums Karlsruhe

Als leidenschaftlicher Surfer hat der Karlsruher Neurochirurg großen Respekt vor der Macht einer Welle: „Aber wenn man vom Strand aus das Meer sorgfältig beobachtet, weiß man, wie und wo die Wellen brechen. So ist es auch bei Corona und einer möglichen zweiten Welle: Wir haben mittlerweile Erfahrung mit den Pandemie-Schutzmaßnahmen gesammelt und sind gerüstet, um Ausbrüche früh zu erkennen“, sagt er.

Ganz traut Spetzger dem Frieden dann aber doch nicht. Sein Krankenhaus halte mindestens bis Ende 2020 eine Station mit etwa 20 Intensivbetten vor, die derzeit versiegelt sei und schnell in Betrieb genommen werden könnte, wenn es plötzlich viele Corona-Fälle geben würde, erzählt der Klinikchef.

Zudem würde man im Neubau (Haus M) weitere 240 Betten als Notreserve haben und somit ein funktionsfähiges Corona-Ausweichkrankenhaus. „Alle Mitarbeiter sind gut trainiert und geschult, das macht mich sehr zuversichtlich.“

Die Mutation des Virus könnte auch eine gute Nachricht sein

Der Experte glaubt, dass die Dunkelziffer an unentdeckten Infektionen nicht so hoch ist wie viele es annehmen. „Wir sind also immer noch im ersten Drittel der Pandemie“, warnt Spetzger. Dass der Erreger mutieren könnte, steht für ihn außer Frage. „Sars-CoV-2 gehört zu den Coronaviren, die sich schnell ändern und jedes Jahr andere Stämme bilden. Die Frage ist, ob das gut oder schlecht für uns sein wird.“

Eine Mutation könnte auch bewirken, dass das Virus weniger gefährlich und der Krankheitsverlauf leichter würde. „Das wichtigste ist, dass die Menschen bei den Sicherheitsmaßnahmen weiter voll mitmachen“, unterstreicht Uwe Spetzger.

Das Szenario der kleinen Wellen hält auch Hajo Zeeb vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie für plausibel. Ebenso möglich sei, dass Sars-CoV-2 mutieren werde. „Durch Lockerungen werden sich weitere Möglichkeiten für eine Corona-Ausbreitung ergeben“, glaubt der Fachmann und erinnert daran, dass im Herbst außerdem die Viruserkrankungen und die banalen Infektionskrankheiten zunehmen werden.

„Da hilft es, wenn man sich durch eine Impfung vor Influenza schützt.“ Auch die Masken würden gegen Erkältungen helfen.

Corona-Warn-App als „Pfeil im Köcher”

Bei einer Bevölkerung von 83 Millionen sei die Zahl der Infizierten und damit vermutlich Immunen noch ein „Tropfen auf dem heißen Stein“, mahnt Zeeb. „Wir machen noch nicht genug Tests und haben Wissenslücken. Deutschland hat das Coronavirus nicht unter Kontrolle, aber es kann darauf besser reagieren“, lautet seine Bilanz.

Wir müssen uns permanent fragen: Was können wir uns erlauben und was nicht?
Hajo Zeeb vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie

Der Epidemiologe lobt einen realistischen Umgang mit der Gefahr in der Bevölkerung. Das wichtigste Ziel sei jetzt, eine gute Balance zwischen Lockerungen und einem vernünftigen Umgang mit der Infektion zu finden. „Wir müssen uns permanent fragen: Was können wir uns erlauben und was nicht?“ Nützlich sei die Corona-App: „Sie ist kein Allheilmittel, aber ein Pfeil im Köcher.“

Mögliche Engpässe bei Hausärzten

Ulrich Wagner, stellvertretender Leiter des Gesundheitsamts Karlsruhe, kann sich vorstellen, dass der Corona-Erreger in nächster Zeit eine geringere Rolle spielen wird. „Das hängt auch davon ab, ob es Medikamente geben wird.“ Eine Infektionswelle im Herbst hält Wagner dennoch für möglich, weil die Menschen dann zum Beispiel anfälliger für Atemwegserkrankungen sein würden.

Sollten die Infektionszahlen extrem ansteigen, käme es möglicherweise zu Problemen im niedergelassenen Bereich. „Hausärzte stoßen an ihre Grenzen. Zusätzlich steigt die Gefahr, dass sie selbst erkranken, wenn hochansteckende Patienten die Praxen fluten“, erklärt Wagner.

Im Stadt- und Landkreis plädiert er entsprechend dafür, die Möglichkeit einer Fieberambulanz aufrecht zu erhalten, um die Versorgung zu sichern.

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