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2002 starben 71 Menschen

Flugzeugunglück vor 20 Jahren: DFS in Karlsruhe konnte Katastrophe von Überlingen nicht verhindern

In einer Julinacht 2002 stießen zwei Flugzeuge hoch am Himmel über dem Bodensee zusammen. Die meisten der Opfer bei dem schlimmsten Unglück im deutschen Luftverkehr seit der Jahrtausendwende waren russische Kinder. Die Tragödie bei Überlingen hatte noch ein bitteres Nachspiel.

Schmerz und Trauer: Angehörige der russischen Absturzopfer legten kurz nach der Katastrophe am 1. Juli 2002 bei Überlingen am Bodensee Blumen und Kränze an das zerstörte Heck der Tupolew 154 (Archivfoto). Bei der Kollision des Passagierflugzeugs mit einer Frachtmaschine waren insgesamt 71 Menschen ums Leben gekommen.
Angehörige der russischen Absturzopfer legten kurz nach der Katastrophe am 1. Juli 2002 bei Überlingen am Bodensee Blumen und Kränze an das zerstörte Heck der Tupolew 154. Foto: Rolf Haid/dpa

Ihnen sollen am Ende weniger als zwei Sekunden gefehlt haben. Nur ein Augenblick. Er hätte wahrscheinlich gereicht, um zwei Flugzeuge auf direktem Kollisionskurs zehn Kilometer hoch über dem Bodensee aneinander vorbei fliegen zu lassen.

Doch das Schicksal war nicht gnädig zu den 71 Menschen an Bord der Passagiermaschine Tupolew 154M der Bashkirian Airlines und des DHL-Frachtfliegers Boeing 757, die in der Nacht auf den 1. Juli 2002 infolge einer Verkettung von Zufällen, technischem Versagen und menschlichen Fehlern mit unvorstellbarer Wucht zusammengekracht sind.

„Es regnete Leichen vom Himmel“, erinnerten sich später die Zeugen des bisher folgenschwersten Flugunfalls der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die meisten der Opfer waren russische Schüler auf dem Weg in die Ferien an der spanischen Costa Dorada.

Nach Flugzeugunglück von Überlingen gab es eine zweite Tragödie

Der Tod einer Russin und ihrer zwei Kinder bei Überlingen führte außerdem zu einer weiteren Tragödie: Zwei Jahre später rächte sich der Familienvater Witalij Kalojew für seinen Verlust am zuständigen Fluglotsen des Schweizer Unternehmens Skyguide, den er an der Türschwelle dessen Hauses erstach.

Der Hergang der Katastrophe wurde sekundengenau rekonstruiert: Der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig zufolge hatten sich um 23.21 Uhr und 23.30 Uhr die Besatzungen beider Flugzeuge bei Skyguide gemeldet. Die Schweizer Flugsicherung ist in jener Nacht unterbesetzt. Der einzige diensthabende Lotse ist abgelenkt, sein Telefon ist defekt. Zudem ist im Züricher Tower ein Kollisionswarnsystem zur Wartung abgeschaltet.

DFS in Karlsruhe schlug Alarm – vergeblich

Die Maschinen werden auch von der Deutschen Flugsicherung (DFS) in Karlsruhe beobachtet – mit zunehmender Sorge. Die DFS ist für einen Großteil des oberen Luftraums über der Bundesrepublik zuständig. Als das Radar in der Waldstadt eine drohende Kollision anzeigt, versuchen die Lotsen, ihren Schweizer Kollegen telefonisch zu erreichen. Sie probieren es in den folgenden Minuten noch zweimal, doch vergeblich.

Unterdessen schlagen die automatischen Warnsysteme (TCAS) in beiden Maschinen Alarm. Erst jetzt bemerkt der Lotse in Zürich das nahende Unglück.

Er fordert die Piloten der Tupolew auf, ihre Flughöhe zu verringern, was diese auch tun – obwohl ihr eigenes TCAS sie zum Steigen auffordert. Dagegen erteilt das TCAS der Boeing das Kommando zum Sinkflug, die Besatzung hält sich daran. Die Flugzeuge fliegen in dieselbe Richtung.

Verwirrung bei den Piloten

Knapp 30 Sekunden bis zum Zusammenstoß: Der alarmierte Skyguide-Lotse ruft der Tupolew-Besatzung zu, dass sich anderer Flugverkehr in der „Zwei-Uhr-Position“ befinde. Einer der Piloten schaut nach rechts, sieht aber keine Gefahr. „Wo ist es?“, fragt er. Der Copilot antwortet: „Hier, linke Seite!“ In den letzten zwei Sekunden haben beide Crews die Flugzeuge wahrscheinlich gesehen. Sie versuchen, noch irgendwie auszuweichen. Doch es war zu spät.

Dann geschieht das „Wunder von Überlingen“: Während am Himmel alle Menschen in beiden Maschinen sterben, wird die zweitgrößte Stadt im Bodenseekreis mit etwa 22.000 Einwohnern von den fallenden Trümmern komplett verschont. Sie schlagen außerorts ein. Auch der See als wichtige Trinkwasserquelle ist nicht betroffen.

In jener Nacht startet einer der größten Polizeieinsätze in der Landesgeschichte. Tausende Polizisten, Lebensretter und Freiwillige suchen nach Überresten. Erst sieben Tage später wird der Einsatz beendet. Später entsteht am Unglücksort eine Gedenkstätte.

Die meisten Opfer waren russische Schüler

Das Unglück bei Überlingen war ein Riesenschock für Russland. Die 49 Schüler aus der 1.500 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Teilrepublik Baschkortostan hätten mit der zehntägigen Ferienreise für ihre guten Schulleistungen belohnt werden sollen. Ihre Hinterbliebenen beginnen einen langen juristischen Streit mit Skyguide.

Am Ende macht die Justiz die US-Hersteller des Warnsystems TCAS und die Schweizer Flugsicherung für die Kollision verantwortlich. Doch kein Schuldspruch kann den 61-jährigen Architekten aus der russischen Kaukasusrepublik Nordossetien besänftigen: Witalij Kalojew hat am Bodensee seine Frau, seinen Sohn und seine Tochter verloren.

Mörder Witalij Kalojew machte Karriere

Zwei Jahre später tötet er den 36-jährigen Fluglotsen aus der Unglücksnacht. Mit zwölf Messerstichen. Kalojew muss dafür in der Schweiz ins Gefängnis.

Nach seiner vorzeitigen Entlassung 2008 wird er in der Heimat als ein Held gefeiert und zum Vize-Bauminister ernannt. Als Kalojew später in den Ruhestand verabschiedet wird, erhält er für seine „Verdienste bei der Stärkung der Gesetzlichkeit“ die Medaille „Zum Ruhm Ossetiens“.

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