Einer der Gründe, warum Gerlinde Chahbani nicht mehr ans System glaubt, wackelt unangenehm in ihrem Mund herum. Vor ein paar Wochen hat sie beim Essen auf ein Stück Metall gebissen. Eine Zahnschiene brach aus ihrem Unterkiefer. Ersatz würde ein paar tausend Euro kosten, von der Krankenkasse oder dem Sozialamt ist kein Cent zu erwarten.
Also behilft sich die 69-Jährige vorläufig irgendwie mit der alten Schiene. Das Sprechen fällt ihr damit allerdings schwer. „Einen Moment, ich muss sie kurz rausnehmen“, sagt sie und verschwindet verschämt ins Bad ihrer kleinen Wohnung.
Von deren Wohnzimmer aus geht der Blick über Bad Herrenalb weit in den Schwarzwald hinein. Zumindest, wenn das Wetter klar ist. Heute regnet es, der Himmel ist wolkenverhangen und grau. Es ist kalt, auch innen, denn die Heizung läuft nicht. Chahbani kehrt zurück und rechnet ihre monatlichen Einnahmen vor. 592 Euro Rente, dazu 367,34 Euro Grundsicherung.
Den Körper kriegt die Wissenschaft
Abzüglich aller Fixkosten bleiben ihr im Monat etwas mehr als 250 Euro. Für Essen. Für Kleidung. Und für medizinische Produkte: Chahbani ist Diabetikerin. Seit ihr Arzt ihr ein neues Medikament verschrieben hat, zahlt die Krankenkasse die Teststreifen für die Blutzuckermessung nicht mehr, sagt sie. „Die wollen wahrscheinlich, dass ich einfach tot umfalle, sozialverträgliches Frühableben sozusagen“, ereifert sich Chahbani.
Für den Fall hätte sie immerhin vorgesorgt: Ihren Körper wird sie einer Universität vermachen, für die Forschung. „Ich selbst habe nix für eine Bestattung. Und meiner Familie will ich die Kosten nicht aufbürden.“
Das Gespräch ist zu diesem Zeitpunkt keine fünf Minuten alt. Der Kaffee, den die Rentnerin in einer bunten Tasse mit Pinguin-Motiven kredenzt hat, dampft noch. Chahbani ist gleich in die Offensive gegangen, Schlag auf Schlag redet sie sich den Frust von der Seele. „Es ist ein Hohn, wie dieser Staat mit alten Menschen umgeht“, schließt sie eine ihrer Ausführungen.
Und am Ende einer anderen versichert sie, sicher nicht gegen Ausländer zu sein. Aber: "Ja, es ist schon schade, wenn der Eindruck entsteht, die Regierung engagiert sich viel stärker für Flüchtlinge als für die, die dieses Land aufgebaut haben.“
Und dann fällt dieser eine Satz
Da ist er also, einer dieser Sätze, wegen dem Kritiker Menschen wie Chahbani ein ungeklärtes Verhältnis zum rechten Rand vorwerfen.
Chahbani redet nämlich nicht nur als Rentnerin, sondern auch als Teil der Bewegung „Fridays gegen Altersarmut“. Ende Januar hat sie eine Mahnwache in Bad Herrenalb organisiert , die nächste ist für kommenden Samstag angemeldet. Gewerkschafter und Sozialverbände haben im Januar vor der Bewegung gewarnt – sie sei teils von Rechtsextremen lanciert, die mit sozialen Themen Wut auf das System schüren wollen.
Tatsächlich gab es im Vorfeld der Mahnwachen eine überproportionale Unterstützung auf rechten Websites und Plattformen. Und ebenso offenkundig wurden von dort Shitstorms orchestriert, um in den sozialen Netzwerken kritische Perspektiven auf „Fridays gegen Altersarmut“ niederzubrüllen.
Allerdings: Die Mahnwachen selbst gerieten wohl nur vereinzelt zum rechten Schaulaufen. Viele lokale Initiativen distanzierten sich im Vorfeld deutlich von politischer Einflussnahme.
Freilich, einige Initiativen gingen gleich noch einen Schritt weiter und distanzierten sich auch gleich von Fridays gegen Altersarmut: In Mannheim etwa firmiert die Mahnwache mittlerweile unter dem Titel „Wir gegen Alterarmut“ - Begründung: Man wolle mit etwaigen rechten Tendenzen der Mutterbewegung nichts zu schaffen haben.
Das Gerede von den Rechten - ein politischer Spaltungsversuch?
Die Wahrnehmung von „Fridays gegen Altersarmut“ ist also kontrovers. Auch so ein Punkt, der Chahbani ärgert. „Bei der Mahnwache in Bad Herrenalb, da waren keine Rechten, es war alles ruhig und friedlich“, sagt sie.
Selbst der Bürgermeister kam, lobte das Engagement der Teilnehmer und erklärte, Armut generell sei ein Problem, dem es stärker zu begegnen gelte. „Ist er deswegen jetzt auch rechts?“, fragt Chahbani. „Und seit wann überhaupt ist denn bitte Armut rechts?“
Sie selbst, sagt sie, sehe die Sache so: Ja, wahrscheinlich gebe es auch ein paar Rechte, die zu den Mahnwachen kämen. „Aber doch nicht, weil sie rechts sind, sondern weil sie gegen Altersarmut sind.“ Das Gerede von der rechten Unterwanderung, glaubt Chahbani, sei ohnehin politisch gesteuert. „Unsere Bewegung ist mittlerweile auf über 300.000 Menschen angewachsen“ sagt sie und meint damit die Zahl der Likes auf Facebook. „Damit werden wir Einigen da oben wohl gefährlich.“
Chahbani ist mit den 68ern groß geworden, hat früher gegen den Abtreibungsparagraphen demonstriert. In ihrem Wohnzimmer stehen Buddha-Statuen und Abbilder hinduistischer Gottheiten auf einem Board. „Ich habe doch nie was mit Rechten zu tun gehabt“, sagt sie, „und keinerlei Symapathien für die AfD.“ Auch sonst allerdings habe sie keinerlei Sympathien mehr für Politiker, für die Institutionen des Staates und für die Akteure der Zivilgesellschaft.
Irgendwann kam die Entfremdung
Der Prozess der Entfremdung hat wohl schon vor Jahren begonnen. Da war diese Sache mit dem Strafprozess, in dem sich die Staatsanwaltschaft früh auf sie eingeschossen und so in letzter Konsequenz ihre Existenz vernichtet habe.
Chahbani hat über Jahrzehnte als selbstständige Unternehmensberaterin gearbeitet und erzählt diese Geschichte so: Bei ihrem letzten Projekt in Leipzig sei sie von zwei Geschäftspartnern über den Tisch gezogen worden. Am Ende stand die Insolvenz und eine Verurteilung – wegen Veruntreuung von Sozialversicherungsbeiträgen.
Sie habe auf dem Papier die Verantwortung übernehmen müssen für Dinge, die sie nicht verursacht habe, lautet Chahbanis Version der Dinge. „Die Strafe kann ich akzeptieren“, sagt sie. „Aber praktisch alles, was ich mir erarbeitet habe, ist weg.“
Geblieben ist ihr ökonomischer Sachverstand und das Fallverständnis der Unternehmensberaterin. „Das schlimme ist, wenn ich meine Situation betrachte, sehe ich, dass mir die Mittel fehlen, mir selbst da raus zu helfen“, sagt sie.
Sie würde gern wieder etwas arbeiten, körperlich traue sie sich das durchaus zu. „Etwas Beratung für kleine Selbstständige, vielleicht auch für Rentner – das wäre schon drin“, sagt sie. „Aber verhandeln Sie mal mit einer Bank, wenn Ihnen beim Reden die Zahnschiene aus dem Mund fällt.“
Eine Abrechnung mit Allem
Der Kaffee in der Pinguintasse dampft längst nicht mehr. Die Themen beginnen, sich im Kreis zu drehen: Der unfähige Staat, die gnadenlosen Behörden, allesamt angetrieben von blassen Beamten und ideenlosen Politikern, die noch dazu keinen Cent in die Rentenkasse einzahlen.
Daneben Gewerkschaften und Sozialverbände, deren Köpfen Postengeschacher und die eigene Absicherung wichtiger sei als die Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Funktion. Und irgendwo dazwischen, Gerlinde Chahbani, ein Opfer dieser Umstände, dem nicht viel mehr bleibt als ihre Wut und vielleicht ein Schuss Selbstmitleid. So ließe sich diese Geschichte erzählen.
Sie lässt sich aber auch so erzählen: Da ist eine Frau, die sich nicht damit abfinden will, dass die Behörden eines der reichsten Länder der Welt ihr Leben aufs Existenzminimum herunterkochen und ihr nicht mal die Mittel für ein paar vernünftige Zähne gewähren. Altersarmut ist keine Erfindung von Gerlinde Chahbani – sondern ein wachsendes Problem in der Gesellschaft.
In Erhebungen des statistischen Bundesamtes ist von den über 65-Jährigen jeder Fünfte von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen . In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl nicht stark, aber doch kontinuierlich gewachsen. Die Tafeln vermelden regelmäßig, dass der Zulauf von Rentnern zunehme .
Weil Chahbani nicht erkennt, dass dem Problem ernsthaft begegnet würde, hat sie irgendwann auf Facebook ihr Like bei „Fridays gegen Altersarmut“ gesetzt. Nun hofft sie, die Mahnwachen könnten das Land aufrütteln und die Politik zum Handeln bewegen. „Dafür wollen wir die Menschen auf die Straße holen, friedlich und gesittet. Bevor sich die Wut anders die Bahn bricht - denn wütend sind viele. Und nicht nur die Alten.“
Ob die Wut, die Chahbani sieht, tatsächlich die Menschen auf die Straße treibt, muss sich zeigen: Zur ersten Mahnwache in Bad Herrenalb kamen rund 30 Leute. Am Samstag werden hoffentlich ein paar mehr, wünscht sie sich.
Die Mahnwache in Bad Herrenalb findet am Samstag ab 14 Uhr am Rathausplatz statt.