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Streit der Lehrerverbände

Gemeinschaftsschulen kontern Kritik: "Gymnasien grenzen Kinder gnadenlos aus"

Die Gymnasiallehrer des Philologenverbandes haben mit ihrer herben Schelte der Gemeinschaftsschulen heftige Reaktionen ausgelöst. Zahlreiche Familien, Lehrer und Kommunalpolitiker haben empört reagiert, einige aber auch zustimmend.

Selbstorganisiertes Lernen hat einen hohen Stellenwert in den Gemeinschaftsschulen. Die Kinder und Jugendlichen erstellen ihre Wochenpläne und sollen lernen regelmäßig, aber eigenständig zu arbeiten. Dass die Gymnasiallehrer des Philologenverbandes dieses System vernichtend kritisiert haben, erzürnt viele Lehrer und Eltern.
Selbstorganisiertes Lernen hat einen hohen Stellenwert in den Gemeinschaftsschulen. Die Kinder und Jugendlichen erstellen ihre Wochenpläne und sollen lernen regelmäßig, aber eigenständig zu arbeiten. Dass die Gymnasiallehrer des Philologenverbandes dieses System vernichtend kritisiert haben, erzürnt viele Lehrer und Eltern. Foto: Kästl/dpa

Noch immer erreichen die Redaktion zahlreiche Zuschriften und Anrufe: Die harte Kritik des Philologenverbandes (PhV) an den Gemeinschaftsschulen hat ein großes Echo ausgelöst. Eltern, Schüler und Pädagogen haben sich bei den BNN gemeldet – viele verteidigen empört ihre angesehenen Gemeinschaftsschulen vor Ort, andere stimmen der Kritik am Konzept der noch jungen Schulart zu.

„Borniert bis auf die Knochen“, findet der Verein für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg die Vorwürfe der Gymnasiallehrer. „Wir stellen mit Verwunderung fest, dass der Philologenverband als Vertretung vieler Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrerinnen im Land jegliche Beißhemmungen gegenüber Kollegen anderer Schularten verliert“, erklärte Vereinsvorsitzender Matthias-Wagner-Uhl.

Der Rektor einer Gemeinschaftsschule in Neuenburg wirft wiederum den Gymnasiallehrern ein verfehltes pädagogisches Konzept vor.

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Vorwurf: Schüler werden "beschämt und niedergedrückt"

„Der Philologenverband grenzt Kinder aus – und zwar gnadenlos“, sagt er im Gespräch mit den BNN. Es sei die Aufgabe einer Schule, mit der Unterschiedlichkeit von Kindern umzugehen, anstatt ihr Scheitern festzustellen. Auf den Gemeinschaftsschulen würden Kinder im Gegensatz zum Gymnasium – „nicht beschämt und niedergedrückt“, betont Wagner-Uhl. „Das Gymnasium macht es sich bequem.“ Diese Schulart verweigere sich den gesellschaftlichen Herausforderungen.

Der PhV hatte den jungen Gemeinschaftsschulen vorgeworfen, ihr System des selbstorganisierten Lernens auf verschiedenen Niveaus funktioniere nicht und führe zu Disziplinproblemen, außerdem würden Noten zum Abschluss hin frisiert – und Gymnasiallehrer gemobbt. Zum Beleg hatte er Berichte von 15 Gymnasiallehrern, die an den Schulen neuen Typs arbeiten, vorgelegt.

Gemeinschaftsschullehrer kontern mit positiven Erlebnisberichten

Der Gemeinschaftsschulverband und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verurteilen die Kritik des Philologenverbandes als gezielte Kampagne, da in Kürze die Anmeldungen für die weiterführenden Schulen laufen. Außerdem geißeln sie die geringe Zahl der Erfahrungsberichte als unseriös. Zum Gegenbeweis haben die beiden Verbände ebenfalls Lehrer und Eltern öffentlich aufgefordert, ihre Erfahrungen zu schildern – sie zeichnen ein positives Bild von Lernerfolgen und Teamgeist an Gemeinschaftsschulen.

Die Aussagen des Philologenverbands sind so haltlos, dass es sich nicht lohnt, im Detail darauf einzugehen
Ulrike Felger, Sprecherin des Elternnetzwerks

Was der Schulverein zu den inhaltlichen Vorwürfen des PhV sagt? „Die Aussagen des Philologenverbands sind so haltlos, dass es sich nicht lohnt, im Detail darauf einzugehen“, wird Ulrike Felger, Sprecherin des Elternnetzwerks im Verein, auf der Homepage zitiert.

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Anstoß für Reformen von innen?

Vereinzelt gibt es aber auch von innen Rufe nach Verbesserungen. Ein Lörracher Schulleiter hält die Forderung der Philologen nach Reformen für gerechtfertigt. Zumindest teilweise sei eine „Rückkehr zur klassischen Notengebung sinnvoll“, ebenso ein Kurssystem für unterschiedlich begabte Kinder.

Nachhaltig verärgert sind Bürgermeister wie Bernd Killinger. „Die Gemeinschaftsschule wird politisch zur Resteschule gemacht“, kritisiert der Rathauschef aus Forst, der einen Offenen Brief von rund einem Dutzend Bürgermeistern angestoßen hatte. Er findet es unfair, dass alle anderen Schularten gerne die Inklusionskinder und alle Schüler, die bei ihnen gescheitert sind, an die Gemeinschaftsschulen weiterreichen.

„Es wäre schön, wenn all die Kinder, die solche Frustration erlebt haben, von Anfang an in diese Schule gegeben worden wären“, sagt der Kommunalpolitiker, dem positive Motivation wichtig ist.

Killinger fordert Oberstufe im Kreis Karlsruhe

Killingers Gemeinde hat sieben Millionen in die Gemeinschaftsschule gesteckt, bietet Spanisch an, unterhält Kooperationen mit zwei Gymnasien, auf denen Schüler später Abitur machen könnten. Er wünscht sich von der Landespolitik ein „ganz klares Bekenntnis“ zu den Gemeinschaftsschulen – und Antworten auf offene Fragen.

„Ich brauche eine klare Entscheidung zur Grundschulempfehlung und zur Frage, ob Realschulen auch Hauptschüler bis zum Ende beschulen sollen“, sagt er. „Man muss klar definieren: Was soll die Gemeinschaftsschule leisten? Und dann brauche ich die entsprechende Lehrerausstattung.“

Killinger plädiert für einen Ausbau des neuen Schultyps: „Eine selbstbewusste Oberstufe an einer Gemeinschaftsschule im nördlichen Landkreis Karlsruhe wäre angebracht“, sagt er. „Ein solcher Leuchtturm würde positiv ausstrahlen – und die Beruflichen Gymnasien entlasten, die aus allen Nähten platzen.“

Reaktionen auf harte Kritik des Philologenverbandes

Auch Zuschriften einzelner Schüler erreichten die Redaktion: Sie betonen, wie wohl sie sich an ihrer Gemeinschaftsschule fühlten und dass ihr Alltag ganz anders sei, als es der Philologenverband behaupte. Wir haben die aussagekräftigsten Reaktionen zusammengetragen:

„Wir gehen friedlich miteinander um und mobben uns nicht“, schreibt eine Elfjährige. „Im Gegenteil: Die Stärkeren helfen den Schwächeren.“ Und die Beurteilungen seien den Schülern keinesfalls egal. „Ich habe übrigens eine Gymnasialempfehlung erhalten“, schreibt das Kind. „Ich bin auf unsere Gemeinschaftsschule gegangen, weil es mir auf unserer Grundschule schon sehr gut gefiel.“

Auf den einzelnen Schulstandort kommt es an – das meinen mehrere Familien und auch Pädagogen, die mehrere Gemeinschaftsschulen kennenlernten. Fazit: An der einen gehe es „chaotisch“ zu, andernorts laufe alles prima.

Aus Sicht von Gemeinschaftsschul-Rektor Volker Arntz basiert die herbe Kritik des Philologenverbandes teils auf fundamentalen Missverständnissen. Die Gymmasiallehrer blickten durch ihre Brille auf die Gemeinschaftsschule und wüssten zu wenig über deren Methoden. „Das ärgert mich wahnsinnig“, sagt Arntz, dessen Hardtschule in Durmersheim als Vorbildschule gilt und für den Deutschen Schulpreis 2020 nominiert ist. Da ist zum Beispiel die Kritik daran, dass Schüler angeblich wiederholt die selben Arbeiten schrieben: Es gehe überhaupt nicht um klassische Klassenarbeiten, sondern um sogenannte Lernkompetenz-Checks, betont Arntz. „Ein Schüler kann bei uns erst ins nächste Kompetenzfeld weitergehen, wenn er auf dem vorherigen mindestens die Kompetenz auf Grundniveau erworben hat“, erklärt der Schulleiter. „Wir bauen nicht auf Sand.“ Damit keine Verständnislücken blieben, übten die Schüler, bis sie die Aufgaben lösen können. „Wir denken vom Kind aus, das Gymnasium denkt vom Stoff aus“, sagt Arntz – und betont: Zentrale Klausuren und Arbeiten, die für Abschlussnoten zählen, dürften selbstverständlich nicht mehrfach geschrieben werden.

„Bei unseren Schülerinnen und Schülern klappt das selbstorganisierte Lernen und das Arbeiten in Lerngruppen sehr gut“, erklärt Julia Dörr, Elternbeiratsvorsitzende der Bruchsaler Konrad-Adenauer-Schule. „Als Mutter sehe ich den Mehrwert des individuellen Lernens als zeitgemäße Vorbereitung auf anstehende berufliche Herausforderungen.“ Auch die Kritik daran, dass es erst ab Klasse 8/9 klassische Noten gibt, lässt sie nicht gelten: „An einer GMS hat jeder die Möglichkeit, Noten bereits ab Klasse 5 zu beantragen.“

Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstorganisation von Kindern hegt die frühere Rektorin der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, Liesel Hermes: „Ich habe mehrere Jahre in einer Gemeinschaftsschule Englisch-Förderunterricht in sechsten Klassen gegeben und kenne vor allem bei Jungen Disziplinprobleme, selbst in Kleingruppen von vier bis fünf Kindern“, schreibt sie. „Vollends bestätigt werden diese Zweifel durch eine Examensarbeit einer Studentin von mir, die zwei sechste Klassen vier Monate begleitet und die geringe Effizienz der selbstständigen Arbeit mancher Kinder bei Lernjobs gründlich dokumentiert hat.“

Dass die Beziehungsarbeit zwischen Lernbegleitern und Kindern der Schlüssel zum Erfolg des selbstbestimmten Lernens sei, betonen zahlreiche GMS-Lehrer. Die Schüler würden keineswegs sich selbst überlassen, sondern eng begleitet. Jedes Kind erhalte täglich intensive persönliche Rückmeldungen. Was ihr an der Gemeinschaftsschule viel besser gefalle als am Gymnasium, umschreibt eine ausgebildete Gymnasiallehrerin im Gespräch mit den BNN so: „Ich bin ganz fürs Kind da.“ Am Gymnasium habe sie erlebt, dass Kinder schnell als „dumm und faul“ abgestempelt wurden und niemand nach den Gründen ihrer pubertären Krisen fragte – obwohl sie durchaus intelligent waren.

Nicole Nicklis ist „begeisterte Gemeinschaftsschul-Mutter“, Elternbeiratsvorsitzende in Bad Schönborn und Mitglied im Landeselternbeirat. „Zu keiner Zeit habe ich als Elternteil erlebt, dass Klassenarbeiten so lange geschrieben und wiederholt werden, bis die Note oder der Durchschnitt passt“ schreibt sie. Auch die Kultusministerin täte gut daran, klarer Stellung zu beziehen, statt seicht ,zur Besonnenheit aufzurufen’.“

Als unfair kritisiert der Kraichtaler SPD-Gemeinderat Bernhard Stolzenberger den Philologenverband: Die Gemeinschaftsschule in Kraichtal sei geprägt vom großen Engagement aller Lehrkräfte: „Sie hat eine große Akzeptanz unter den Eltern“, erklärt er. „Aussagen wie ,Dies ist genau die Schule, die mein Kind braucht’, sind immer wieder zu hören. Deswegen halten wir es für unverantwortlich, wenn man diese Schulform durch die Schilderung von negativen Einzelfällen schlechtredet und ihr damit das Wasser abgräbt.“ Er erwarte „Sachlichkeit und Fairness“.

Die Kritik der Gymnasiallehrer „nur unterstreichen“ kann eine langjährige Lehrerin, die als Prüferin auch Mittlere-Reife-Prüfungen an Gemeinschaftsschulen abgenommen hat. Sie stellt eine große Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Schülerleistungen und den schmeichelhaften Einreichungsnoten und Erstkorrekturen der Fachlehrer fest: „Es wundert mich nicht, dass die Prüfungsnoten im Endergebnis nicht stärker von den Realschulen abweichen, wie Herr Wagner-Uhl stolz verkündet“, sagt sie. „Auch dass zwei Drittel der Grundschüler mit der Empfehlung für die Werkrealschule unter solchen Umständen den Realschulabschluss machen, ist nicht verwunderlich.“

Wann das „ideologisch aufgeheizte Gegeneinander“ der Lehrerverbände endlich aufhöre, fragt der Lörracher GMS-Rektor David Weber. Er erlebe ein harmonisches Kollegium, in dem Gymnasiallehrer nicht ausgegrenzt werden, schreibt er für einen Aufruf der GEW. Zugleich fordert er, die Kritik zur Selbstüberprüfung zu nutzen: „Ja, angesichts unterschiedlich begabter Kinder haben Leistungsgruppen eine Berechtigung – sofern sie Leistungszuschreibungen nicht frühzeitig zementieren, sondern die Bildung von Leistungsprofilen und Aufstieg ermöglichen. Deshalb haben wir beispielsweise ab Stufe 6 für die Kernfächer ein durchlässiges Kurssystem eingeführt.“

Gymnasiallehrer, die an der Gemeinschaftsschule in Eggenstein arbeiten, haben ihre durchweg positiven Erfahrungsberichte eingeschickt. „Für Schüler, die zwar eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten haben, aber auch mit einzelnen Lernschwierigkeiten zu kämpfen haben, finde ich die GMS die passendere Schulform als das Gymnasium“, heißt es darin zum Beispiel. „An der GMS können solche Schüler, wo immer möglich, auf dem gymnasialen Niveau arbeiten.“

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