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Corona

Im Landkreis Karlsruhe fehlen durch Grenzschließungen osteuropäische Pfleger

Lukas Wawrzyk ist verzweifelt. Erst vor kurzem hat der 42-Jährige aus Ettlingen seine Firma „Lukas Pflegevermittlung“ eröffnet. Eine einzige Pflegekraft aus seinem Heimatland konnte der Pole noch vor Ausbruch der Corona-Epidemie für eine Familie im Landkreis Karlsruhe besorgen – dann war Schluss.

Bei ihren Hausbesuchen ist die gelernte Altenpflegerin Martina Winkendick für viele ihrer Kundinnen und Kunden die wichtigste Ansprechpartnerin. Neben den pflegerischen Aufgaben sind ihr auch das Zuhören und das Gespräch wichtig.
Viele Senioren in Deutschland sind auf ausländische Pflegekräfte angewiesen. Diese haben jetzt Schwierigkeiten, nach Deutschland zu kommen. Foto: Pröll

„In den vergangenen drei Tagen musste ich fünf Interessenten absagen“, sagt frustriert Wawrzyk am Telefon. „Man kriegt aus Polen einfach keine Pflegekräfte mehr nach Deutschland herüber. Die Verunsicherung ist bei allen riesengroß.“

Pfleger aus Osteuropa füllen die Lücken

Der Fachkräftemangel in Pflegeberufen führt in Deutschland seit Jahren zu Engpässen , die zum Teil durch ausländische Beschäftigte ausgeglichen werden. Wie viele es insgesamt sind, weiß nicht einmal die Bundesregierung. Das ging aus einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag 2019 hervor.

Schätzungen zufolge dürften etwa 600.000 Pflegekräfte zumeist aus Osteuropa die kranken und bettlägerigen Menschen hierzulande versorgt haben – bis vor kurzem.

Denn vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der Sicherheitsmaßnahmen im Schengen-Raum gehen die Zahlen zurück. „Dramatisch“ nannte jetzt in einem Bericht der Verband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) die Lage und schätzte, dass mittelfristig bis zu 200.000 Haushalte in Deutschland in große Nöte stürzen könnten.

Geschlossene Grenzen wegen Coronavirus

Gespannt wartet Gisa Raiß auf eine polnische Pflegerin, die am Donnerstag nach Karlsruhe aufbrechen hätte sollen. „Sie ist nicht losgefahren“, sagt die Regionalvertreterin des Unternehmens Brinkmann Pflegevermittlung. „Die betroffene Familie bangt, dass die Frau bald ankommt, aber ich kann nichts versprechen“.

Etwa 4.000 Fachkräfte aus Osteuropa hat Brinkmann im Vorjahr nach Deutschland vermittelt, davon mindestens 500 in die Region Karlsruhe, schätzt Raiß. „Die Lage ist jetzt nicht einfach: So können Betreuer aus Rumänien momentan gar nicht zu uns reisen, weil Ungarn wegen Corona die Grenzen dichtgemacht hat. Und in Polen fahren einige Busunternehmen nicht mehr“.

Reise nach Deutschland dauert wegen Covid-19 nun länger

Neun bis 15 Stunden habe früher eine Pflegekraft aus dem Osten gebraucht, um den Südwesten Deutschlands zu erreichen. „Jetzt brauchen sie deutlich länger“, sagt Raiß, „oder sie kommen gar nicht mehr.“

Mit Logistikproblemen haben auch die „Pflegehelden“ zu kämpfen. „Busreisen nach Deutschland sind nicht möglich. Zugreisen kommen für viele Betreuer in Polen wegen der Ansteckungsgefahr nicht infrage“, erzählt Frank Schumann, der Karlsruher Vertreter des Dienstleisters aus Schwetzingen. „Das Angebot wird immer knapper, darum müssen wir improvisieren: Das Personal aus Polen reist bis zur Grenze, überquert sie und wartet in einem von uns gemieteten Gebäude auf die Abholung“.

Angehörige und Ambulanzen springen ein

Für die Beförderung der Pfleger hat das Unternehmen in kurzer Zeit zudem eine eigene Busflotte aufgebaut. Schumann beschreibt die Stimmung bei seinen Kunden als besorgt und unsicher: „Manche verzweifelten Angehörigen fahren selbst zur polnischen Grenze, um die Pflegekräfte für ihre Familien abzuholen“. Gestresst seien auch die Neuankömmlinge, die man mithilfe von zwei Psychologen betreue.

Die „Pflegehelden“ haben nach eigenen Angaben 2019 bis zu 1.000 polnische Betreuer nach Karlsruhe, Pforzheim und in die Region gebracht. Laut Geschäftsführer Daniel Pochammer benötigen derzeit vier Prozent seiner Kunden in den kommenden sieben Tagen eine Pflegekraft, die nicht kommen könne. In diesen Fällen würden Angehörige einspringen oder man organisiere stundenweise Betreuung durch ambulante Pflegedienste.

Großes gegenseitiges Verständnis in der Krise

Pochammer lobt das große gegenseitige Verständnis: „Jeder weiß, dass wirklich alle betroffen sind.“ Allen voran die osteuropäischen Helfer, die ihre Einsätze teils verlängerten, um den Menschen zu helfen.

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Ähnliche Erfahrungen macht Andreas Lippert von der Deutschen Seniorenbetreuung in Heilbronn, der von einer „wahnsinnigen Solidarität“ schwärmt: So würden manche Familien ihre Pfleger für andere wochenweise freigeben, und die ausländischen Pfleger ihre Rückreisen in die Heimatländer um Wochen verschieben. „Aber auch die Motiviertesten brauchen mal Auszeiten“, warnt Lippert: „Das geht irgendwann nicht mehr.“

Keine Gewissheit in nächster Zukunft

Andrea Kiefer ist Vorsitzende des Berufsverbands für Pflegeberufe im Südwesten. Zu den polnischen Pflegekräften sagt sie: „Wenn sie zurückgehen und ihre Familien versorgen wollen, ist das verständlich – aber es reißt eine Lücke rein.“ Keines der von den BNN befragten Unternehmen in der Region wagt eine Prognose, ob sich die Situation in der häuslichen Pflege in der nächsten Zeit verändern könnte.

Der Ettlinger Dienstleister Wawrzyk ist pessimistisch und bangt um sein Geschäftsmodell. „Wir wissen, dass es vorbei gehen wird, aber wir wissen nicht, wann“, sagt Brinkmann-Mitarbeiterin Gisa Raiß. Laut dem Geschäftsführer der „Pflegehelden“, Daniel Pochammer, passt sich seine Firma „jeden Tag neu an diese sehr dynamische Lage an“.

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