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Eine Lobby für die Kleinsten

Immer mehr Eltern organisieren sich gegen die Corona-Maßnahmen

Bereits seit fast sechs Wochen leben Familien mit kleinen Kindern ein sehr eingeschränktes Leben. Während für die Erwachsenen nach und nach Lockerungen greifen, gelten für Minderjährige weiterhin strikte Verbote. Immer mehr Eltern gehen deshalb auf die Barrikaden. Nun reagiert die Politik.

Die Zeit der Geduld ist für sehr viele Eltern kleiner Kinder nach fast sechs Wochen Dauerbelastung vorbei. Immer mehr von ihnen fordern für ihre Kinder dieselben Lockerungen, die auch dem Rest der Bevölkerung zuteil werden.
Die Zeit der Geduld ist für sehr viele Eltern kleiner Kinder nach fast sechs Wochen Dauerbelastung vorbei. Immer mehr von ihnen fordern für ihre Kinder dieselben Lockerungen, die auch dem Rest der Bevölkerung zuteil werden. Foto: Jens Büttner/dpa

Bereits seit fast sechs Wochen leben Familien mit kleinen Kindern ein sehr eingeschränktes Leben. Während für die Erwachsenen nach und nach Lockerungen greifen, gelten für Minderjährige weiterhin strikte Verbote. Immer mehr Eltern gehen deshalb auf die Barrikaden. Nun reagiert die Politik. Mit Worten und Taten, wie eine groß angelegte Studie der Landesregierung zur Rolle von Kindern bei der Ausbreitung des Coronavirus beweist.

Geärgert hat sich Meryam Mentgen-Wolny eigentlich von Anfang an. Als die Kitas zu Beginn der Pandemie mir nichts dir nichts mit als erstes zumachten, zum Beispiel. Jetzt, wo das öffentliche Leben nach und nach auf Normalbetrieb gestellt wird, „die Kinder aber trotzdem eingesperrt bleiben“, hat die berufstätige Mutter eines Dreijährigen endgültig genug: „Die Kleinen dürfen den Kopf für die ganze Gesellschaft hinhalten“, sagt die 34-Jährige.

Die Kleinen dürfen den Kopf für die ganze Gesellschaft hinhalten.
Meryam Mentgen-Wolny, berufstätige Mutter

Wenn sich ihre Eltern gewissenhaft an die Regeln gehalten haben, haben Kinder seit Beginn der Corona-Krise in der Tat seit bald sechs Wochen ein sehr eingeschränktes Leben. Keine Spielplätze, keine Großeltern, keine Freunde treffen, keine Sportvereine, keine Freizeitangebote und nur in Ausnahmefällen Betreuung in Kita und Schule – für Menschen, die diese Situation nicht bewusst erleben, ist es schwer, das Ausmaß der Beschränkungen für Familien zu begreifen.

Für manche sogar unmöglich: „Uns wurde mit der Polizei gedroht, als unsere Kinder neben einem Spielplatz tobten“, schreibt ein Vater in der Facebook-Gruppe der Eltern-Initiative „Eltern in der Krise“. Unter seinem Beitrag finden sich Dutzende ähnlicher Kommentare.

An die 7.500 Mitglieder hat die Gruppe seit ihrer Gründung am 17. April. Es werden stündlich mehr. Die Initiative fordert von der Politik Lösungen, die sich an der Realität von Familien mit kleinen Kindern orientieren. „Es braucht Lösungen, die individuell praktikabel für alle betroffenen Eltern sind“, sagt Mitbegründerin Louisa Löwenstein. Familien hätten viele verschiedene Bedürfnisse, die alle bisher nur wenig bedacht worden seien. „Familien brauchen eine Lobby“, so Löwenstein.

Von ähnlichen Beweggründen werden auch die Initiatorinnen der Online-Petition „Kinder brauchen Kinder: Öffnung der Kindertagesstätten und Grundschulen“ geleitet, die bereits von an die 40.000 Müttern und Vätern unterschrieben wurde und eine von vielen derzeit kursierenden Petitionen ist.

Vielschichtige Problematik

„Es geht nicht darum, alles sofort zu öffnen“, betont Stephanie Schläfer, eine der Mit-Initiatorinnen. „Wir denken an die Kinder, die schrittweise wieder Zugang zu Betreuung und Bildung bekommen sollen. Auch Kitas sind Bildungseinrichtungen, das wird oft vergessen.“

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Ohnehin sei die Problematik wahnsinnig vielschichtig: Konstellationen wie Alleinerziehende oder Kinder mit Behinderung, die Probleme und Konflikte, die sich durch die neuen Konstellationen daheim ergeben und der Fakt, dass es bis heute hauptsächlich Frauen sind, an denen diese Arbeit hängen bleibt – „es ist ein extrem weites Feld“, so Schläfer.

Es geht nicht darum, alles sofort zu öffnen.
Stephanie Schläfer, Mit-Initiatorin der Petition "Kinder brauchen Kinder"

Ganz unbedarft ist die Politik in der Kinderfrage allerdings inzwischen auch nicht mehr. Neben Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), die bereits die „über das vertretbare Maß hinausgehende Belastung“ von Familien anprangerte, melden sich immer mehr Stimmen zu Wort.

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Man nehme bei den Lockerungen auf vielen Gebieten ein gewisses Risiko in Kauf, sei aber bei den Kindergärten dazu nicht bereit, sagte Giffeys Vorgängerin Kristina Schröder (CDU) der Süddeutschen Zeitung in einem Interview. „Da sind für mich die Proportionen, was wichtig und fürs Leben prägend ist, komplett verrutscht“, so Schröder.

Erste Lösungsvorschläge aus der Politik

Lösungsvorschläge finanzieller Art kommen beispielsweise von der Bundesfraktion der Grünen, die ein Corona-Elterngeld fordert sowie vom Deutschen Gewerkschaftsbund, der laut DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach „neben einer erweiterten Entschädigung für Verdienstausfälle auch einen gesetzlichen Anspruch auf Freistellung und ein Sonderkündigungsschutz“ für notwendig hält.

Neben dem wachsenden Druck aus der Bevölkerung mag auch die Lösung dieser Fragen im Ausland ein Faktor sein: In Dänemark haben Kitas und Grundschulen wieder geöffnet, in den Niederlanden werden sie es bald. In Island, wo Kindergärten und Schulen mit Einschränkungen offen blieben, ergab eine im „The New England Journal of Medicine“ veröffentlichte Studie, dass Kinder sich nur selten mit dem Virus infizieren.

Land finanziert Studie zu Kindern und Corona

Da eine ähnliche Studie aus China gegenteilige Daten ergeben hatte, solle laut einer Pressemitteilung der Landesregierung nun herausgefunden werden, wie sich das in Baden-Württemberg verhält: Derzeit startet unter Federführung der Universitätsklinik Heidelberg eine vom Land finanzierte Studie, in der die Rolle von Kindern unter zehn Jahren bei der Verbreitung des Coronavirus untersucht wird. „Es ist eminent wichtig, mehr darüber zu wissen, ob die Schließungen überhaupt epidemiologisch gerechtfertigt sind“, so Landeswissenschaftsministerin Theresia Bauer.

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Die Eltern, die keinen Platz in der erweiterten Notbetreuung bekommen haben – weil sie die Voraussetzungen nicht erfüllen oder weil die Kitas unter den geltenden Abstands- und Hygieneregeln nicht genug Plätze bereitstellen können, kämpfen sich indessen weiter durch den Corona-Alltag. Vielen bleibt dabei nichts anderes übrig, als die Regeln für sich aufzulockern. Wie Mentgen-Wolny, die ihre Mutter nach langer Kontaktsperre nun doch um Hilfe bitten musste, um Arbeit und Kind unter einen Hut zu bekommen.

Kommentar

Dass es gerade die Familien sind, die in der Corona-Krise eines der schwersten Päckchen zu Tragen bekommen haben, ist kein Zufall. Care-Arbeit, wie die meist von Frauen erledigte Pflegearbeit genannt wird, die es sowohl in (unter)bezahlter Variante in Pflegeberufen, als auch in unbezahlter Form als Hausarbeit gibt, hat in der Politik sehr lange eine extrem untergeordnete Rolle gespielt. Das mag sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gebessert haben. Doch die Erkenntnis, dass die Betreuung von Kindern und die Hausarbeit einen gigantischen wirtschaftlichen Faktor ausmachen, ist in den politischen Entscheidungen nach wie vor nur wenig sichtbar. Und auch der Fakt, dass unbezahlte Care-Arbeit ebenso wie andere Arbeit mit Belastungen und gesundheitlichen Folgen wie Burnout einhergehen kann, ist nicht neu, aber weitgehend frei von politischen Konsequenzen. Diese Unsichtbarkeit fliegt uns in Zeiten von Corona, wo Frauen und Männer längst beide berufstätig sind, weil sie es wollen oder müssen und die Politik es so vorangetrieben hat, nun um die Ohren. Das bisschen Care-Arbeit hat sich nämlich nie von alleine gemacht. Weder früher, als Frauen daheim waren, noch jetzt, wo alle daheim sind und es keine Lösungen gibt, wenn die Kinder klein sind. Ein hässliches Strukturproblem, das nicht nur dadurch sein wahres Gesicht zeigt, sondern sich inzwischen auf die Stimmung in der Gesellschaft auswirkt, die Kinder nicht mehr scherzhaft-liebevoll, sondern nunmehr ängstlich als „Virenschleudern“ bezeichnet. Eine Angst, die ungeachtet aller kommenden wissenschaftlichen Studienergebnisse auf einem Denkfehler beruht: Während das Leben Erwachsener jeden Tag ein bisschen normaler wird, sind die Kinder seit sechs Wochen isoliert.

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