Nach gut fünf Jahren Planung können zum bevorstehenden Wintersemester in Karlsruhe Studierende mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in die erste Wohngemeinschaft Deutschlands speziell für Menschen mit dieser Behinderung einziehen.
Bis zu vier Betroffene sollen dort gemeinsam unterkommen und betreut werden. Eigentlich sollte Anfang Oktober die Zusammensetzung klar sein. Doch die Corona-Krise hat die Pläne ausgebremst. Unterkriegen lassen will man sich aber nicht.
Für den Organisator ist es eine Herzensangelegenheit
„Für Autisten ist der Auszug aus dem Elternhaus eine besondere Herausforderung“, erklärt Organisator Christian Hilbert. „Sie haben auf der sozialen Ebene große Probleme. In ein ganz neues Umfeld und eine neue Stadt zu kommen, ist eine riesige Umstellung für die Betroffenen.“
Ich hätte mir in Karlsruhe eine betreute WG gewünscht, in der ich meine sozialen Unsicherheiten überwinden hätte können.Lisa Hilbert, ASS-Betroffene
Bei seiner Beurteilung kann sich Hilbert auf eigene Erfahrungen berufen. Seine Tochter Lisa leidet selbst an ASS. Sie studierte zunächst in Karlsruhe und ist nun für das Master-Studium nach Nürnberg gezogen. Von ihr kam vor acht Jahren auch die Idee einer Wohngemeinschaft. „Ich hätte mir in Karlsruhe eine betreute WG gewünscht, in der ich meine sozialen Unsicherheiten überwinden hätte können“, sagt sie.
Als aus dem Wunsch der Tochter schließlich ein ernstes Projekt wurde, hatten sich mehrere Interessenten aus ganz Deutschland gemeldet. Ganz so leicht wie erhofft ließ sich die Idee aber nicht in die Tat umsetzen, das musste Christian Hilbert früh erkennen. „Wir hatten endlose Gespräche und Verhandlungen mit verschiedenen Beteiligten“, erinnert er sich. „Ich habe bestimmt drei-, viermal ans Aufgeben gedacht.“
Seit einigen Monaten stehen nun die zwei wichtigsten Bausteine: Das Studierendenwerk ist als Partner mit im Boot und stellt die Wohnung zur Verfügung. Mit der Stadt hat die gemeinnützige Gesellschaft „seemann autismus autark“ als Träger des Projekts eine Vereinbarung zur Übernahme der Leistungsentgelte unterzeichnet. Nur die Bewohner fehlen noch.
Corona-Krise sorgt für Zurückhaltung unter Interessenten
„Alles ist bereit, wir können loslegen“, sagt Christian Hilbert. In den vergangenen Wochen hielten sich die Interessenten aber sehr zurück. „In der Corona-Pandemie sind ASS-Betroffene noch vorsichtiger als andere Studierende. Da ohnehin viel digital passiert, überlegen sie sich den Schritt aus dem Elternhaus doppelt.“
Ob die Gemeinschaft nun tatsächlich schon zum Wintersemester starten kann, ist fraglich. Die Organisatoren planen eigentlich mit ein bis zwei Monaten Vorlauf, um alles einrichten zu können. „Die Wohnung mieten wir natürlich erst an, wenn wir mindestens zwei Zusagen haben.“
Das WG-Angebot richtet sich an autistische Menschen, die eigenständig sind und anderen gegenüber nicht aggressiv. Mit der gemeinsamen Unterbringung in einer WG betritt man nun völliges Neuland, vergleichbare Konzepte gibt es in Deutschland nicht. „Wir halten das für den richtigen Weg.
So können wir die Studierenden gemeinsam und intensiver betreuen. Es entsteht eine andere Gruppendynamik. Auch für die Eltern ist es hilfreich, weil sie wissen, dass ihre Kinder in guten Händen sind.“