Wie lassen sich die sozialen Sicherungssysteme retten? Die ernüchternde Antwort der Diakonie Baden lautet: Keinesfalls mit den alten Konzepten.
Eine Umverteilungsdebatte über Geld ist nach Überzeugung des Vorstandsvorsitzenden Urs Keller unumgänglich. Und mehr Pflegeroboter und mehr ehrenamtliche Kräfte werden auch nötig sein, um in Sozialeinrichtungen die größte Not zu lindern.
„Immer wieder erleben wir, dass Sozialstationen keine neuen Patienten mehr annehmen können und dass Kita-Gruppen nicht eröffnen können“, erklärte Keller bei der Jahrespressekonferenz der evangelischen Diakonie. Personalmangel und Dauerstress spitzten sich in der Pflege und in anderen Sozialberufen stetig zu: „Die Leute können nicht mehr. Sie sind ausgebrannt.“
Die Menschen sind ausgelaugt. Es gibt viele hochstrittige Eltern, die ihre Konflikte über die Kinder austragen.Rüdiger Heger, Diakonisches Werk Kreis Karlsruhe
Leidtragende sind auch die jüngsten und hilflosesten in der Gesellschaft: Kinder, die vor ihren eigenen lieblosen und zerrütteten Familien gerettet werden müssen. „Die Jugendämter suchen händeringend nach Plätzen“, sagte Diakonie-Vorständin Beatrix Vogt-Wuchter.
„Sie suchen inzwischen im Umkreis von 200 bis 300 Kilometern, um Kinder, die aus ihren Familien herausgenommen werden, unterzubringen.“
Von immer komplexerem Beratungsbedarf berichtete Rüdiger Heger, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes im Landkreis Karlsruhe, in Zeiten von Pandemie, Inflation und Krieg: „Die Menschen sind ausgelaugt. Es gibt viele hochstrittige Eltern, die ihre Konflikte über die Kinder austragen.“
Wachpersonal statt pädagogische Betreuer für junge Flüchtlinge
Auch den minderjährigen Flüchtlingen, die allein ins Land kommen, könnten die Profis nicht mehr angemessen helfen, „schon gar nicht pädagogisch“, unterstrich Vogt-Wuchter. Sie berichtete von der Notlage in Mannheim. Dort konnte die Stadt unbegleitete junge Flüchtlinge nur noch in einem Hotel unterbringen – mit einem Wachdienst davor.
Da sich weder Sozialarbeiter noch Pflegekräfte oder Erzieherinnen herbeizaubern lassen, rechnet Diakonie-Chef Keller damit, dass diese Versorgungskrise alle Bereiche der Gesellschaft erfassen wird. Eine Haltung nach dem Motto: „Lieber Staat, bitte löse das Problem“, müssten sich die Bürger abgewöhnen und künftig mehr in Eigeninitiative stemmen – notgedrungen auch in der häuslichen Pflege, erklärte Keller.
„Ich will aber nicht dem Pessimisums das Wort reden“, betonte er zugleich. „Diese Gesellschaft hat immer Krisen gemeistert. Wir sind ein Erfinderland.“
Diakonie-Vorstand: 75 Prozent ziehen Pflegeroboter fremden Menschen vor
Pflegeroboter – vor Jahren noch als Ausdruck von Kälte verpönt – sind inzwischen zum Hoffnungsträger geworden. „75 Prozent der Menschen sagen, sie wollen lieber von einem Roboter gesäubert werden als von einem fremden Menschen“, zitierte Diakonie-Vorstand André Peters aus einer Umfrage. Da gehe es ums Schamgefühl.
„Es gibt zwar noch keinen Pflegeroboter, der einen Patienten ins Bett bringt und auf die Toilette trägt“, sagte Peters, „aber in 20 bis 30 Jahren wird sich da viel getan haben.“ Auch Ärzte und Pflegeexperten, die pflegende Familien per Videokonferenz beraten, könnten die Not zumindest lindern.
Wer das System in Zukunft finanziert? Darüber fordert die Diakonie eine gesellschaftliche Debatte, und zwar schnell. „Wenn auf Kapitalerträge nur 25 Prozent Steuern erhoben werden, aber auf Arbeit bis zu 42 Prozent, dann müsste man darüber zumindest diskutieren“, erklärte Keller. Aber es seien viele Ideen und eine breite Debatte nötig.
Keller: Soziales Pflichtjahr löst Probleme nicht
Ein soziales Pflichtjahr fordert Keller aktuell nicht. „Unser Meinungsbild ist noch nicht abgeschlossen“, erklärte der Diakonie-Chef. „Ich fremdle ein wenig mit dem Wort Pflicht. Ein reines Pflichtjahr wird das Problem nicht lösen.“
Wichtiger sei es ihm, die Freiwilligendienste auszubauen und junge Menschen positiv mit Sozialberufen in Kontakt zu bringen. Auch bei fitten Jungsenioren sieht Keller da großes Potenzial. Viele seien bereit, sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Man müsse neue Wege gehen, damit diese Menschen über flexible Ruhestandsmodelle in ein neues Engagement finden. „Da müssen wir noch kreativer werden.“