Maskenpflicht, Schul- und Geschäftsschließungen, Kontaktverbote, nächtliche Ausgangssperren. Mit rigorosen Mitteln reagierten der Bund und die Länder vor zwei Jahren auf den Ausbruch der Corona-Pandemie. Ein ganzes Bündel an Einschränkungen und Verboten sollte die Ausbreitung des aggressiven Virus stoppen und dafür sorgen, dass es in Kliniken nicht zu einem Kollaps kommt.
Ihre Wirkung verfehlten sie nicht, die Lage in den Krankenhäusern war zwar angespannt, aber zu keinem Zeitpunkt drohten Zustände wie im italienischen Bergamo. Aber sind die politisch Verantwortlichen zu weit gegangen, indem sie der Sicherheit der Bevölkerung Vorrang vor der Freiheit des Einzelnen gaben? Waren die Einschränkungen der Freiheitsrechte in diesem Ausmaß überhaupt nötig?
Einen derart massiven Eingriff hatten wir noch nie.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ex-Bundesjustizministerin
„Es hätte mehr diskutiert werden müssen“, kritisiert die frühere FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger beim 17. Karlsruher Verfassungsdialog der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung und der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Er steht unter dem ebenso sperrigen wie brisanten Thema „Von Schutzstaat und Staatsschutz“, wie die Debatte um die sogenannte Bundesnotbremse belegt.
„Die Ausgangssperre war ein massiver Eingriff in die Freiheitsrechte, einen derart massiven Eingriff hatten wir noch nie“, sagt die liberale Ex-Ministerin, die einst im Streit um den Großen Lauschangriff zurückgetreten ist.
Viel zu lange habe die Regierung ausschließlich mit Verordnungen gearbeitet, erst zu einem sehr späten Zeitpunkt seien der Bundestag und die Landesparlamente einbezogen worden. „Da haben die Gerichte viel bewirkt.“
Große Unsicherheit zu Beginn der Corona-Pandemie
Gleichwohl gab es in der Öffentlichkeit vor allem Kritik am Bundesverfassungsgericht, das die massiven Einschränkungen im Rahmen der Bundesnotbremse billigte und somit die Beschneidung der Freiheitsrechte zugunsten der Sicherheit und des Bevölkerungsschutzes akzeptierte.
„Das Bundesverfassungsgericht hat sich stark zurückgenommen und dem Gesetzgeber einen großen Spielraum zugebilligt“, sagt Nora Markard, Professorin für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Münster und Mitglied im Vorstand der GFF. Dies sei im Rückblick auch verständlich, habe doch zu Beginn der Pandemie eine große Unsicherheit geherrscht, welche Maßnahmen nötig seien, um die Pandemie in den Griff zu bekommen.
Legitimiert ist einzig der Bundestag mit seinen 736 frei gewählten Abgeordneten.Heinrich Amadeus Wolff, Verfassungsrichter
Heinrich Amadeus Wolff, seit 3. Juni Richter im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts und an der Entscheidung zur Bundesnotbremse noch nicht beteiligt, verteidigt dagegen die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts.
„Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Aufgabe, diese Unsicherheit zu beseitigen.“ Dafür hätten die Richterinnen und Richter keine Legitimation. „Legitimiert ist einzig der Bundestag mit seinen 736 frei gewählten Abgeordneten.“
Er allein habe gesetzgeberische Funktion, nicht das Verfassungsgericht. Auch den Vorwurf, die Hüter der Verfassung seien in diesem Fall zu regierungstreu gewesen, weist er zurück. „Es war zu diesem Zeitpunkt und in dieser Situation völlig unklar, wie es weitergeht.“
Grundrecht auf Bildung
Nora Markard wiederum verweist darauf, dass das höchste deutsche Gericht im Falle der Schulschließungen sehr wohl den Gesetzgeber in die Pflicht genommen habe, indem es ein „Recht auf Bildung“ postulierte: „Es reicht nicht, nur einfach die Schulen zu schließen. Dann muss der Staat trotzdem sicherstellen, dass die Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden.“
Auf das grundsätzliche Dilemma macht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger aufmerksam: „Freiheit kann in einer Gesellschaft mit über 80 Millionen Menschen nicht uneingeschränkt ausgelebt werden.“ Die individuelle Freiheit kollidiere immer mit den Rechten anderer.
Gleichzeitig gebe es aber auch kein Grundrecht auf Sicherheit, da auch das zur Einschränkung anderer Grundrechte führe. Dem Verfassungsgericht komme dabei eine Wächterrolle zu. In seinen Entscheidungen lasse es stets der Politik einen breiten Ermessensspielraum zu. „Die Entscheidungen muss der Gesetzgeber treffen, aber über ihm schwebt ein Damoklesschwert, wenn er nicht in die Pötte kommt.“
Kein Verbot von Twitter oder Telegram
Übereinstimmend lehnen alle Teilnehmer des Verfassungsdialogs die Forderung ab, Plattformen wie Twitter oder Telegram zu verbieten, wenn sie nicht konsequent genug gegen Hass und Hetze vorgehen.
Es bestehe zwar Regulierungsbedarf, aber ein Verbot stehe nicht zur Debatte. „Demokratie bedeutet, dass sich alle äußern dürfen“, sagt Nora Markard.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fordert ein funktionierendes Beschwerdemanagement und die Möglichkeit, juristisch gegen Hetzer vorgehen zu können, lehnt aber nationale Alleingänge ab. „Wir brauchen eine europäische Regelung.“
Verfassungsrichter Heinrich Amadeus Wolff schließlich spricht sich für eine klare gesetzliche Grundlage aus, die die Plattformbetreiber in die Pflicht nimmt, sieht aber für das höchste Gericht keinen Handlungsbedarf. „Der Gesetzgeber schläft nicht, er ist hoch aktiv.“