Per Mausklick geht es ans Schloss: Wegen Corona sind die Schlosslichtspiele in diesem Sommer in die digitale Welt verlegt - und damit aufs heimische Sofa.
Es ist Mittwoch, Premiere, 20.15 Uhr: Die Kissen auf der Couch sind in Position, das Tablet liegt bereit, die Show kann online gestartet werden. Zum Auftakt bleibt dabei in einem Punkt alles beim Alten: Mit der beim Publikum besonders beliebten Show „300 Fragments” der Gruppe Maxin10sity beginnt das Programm.
Gänsehautmomente mit ein wenig Wehmut
Seit 2015 verwandelt sich in diesem Werk Jahr für Jahr der Barockbau unter anderem in eine Bibliothek, Bücher flattern über die Fassade. Ein Gänsehautmoment, der auch online funktioniert. Dennoch kommt ein wenig Wehmut auf: Ach wäre es schön, jetzt am Schloss zu sitzen. Gerne auf einem klapprigen Campingstuhl. Ja, es wäre völlig okay, wenn jemand vor der Fassade durchs Bild radeln würde - was Fans der Schlosslichtspiele sonst gerne mal auf die Palme bringt...
2020 gibt es das nicht. Niemand verstellt dem Zuschauer die Sicht. Im Gegenteil: In Sekundenschnelle kann sich jeder auf unterschiedliche Positionen beamen - Vogelperspektive inklusive. Ohne auf dem Sofa einen Millimeter zu rutschen, blickt man von rechts oder links, von vorne oder hinten auf das Schloss - oder man hebt ab in luftige Höhe. Letzteres gefällt Peter Weibel am besten.
In Karlsruhe haben digital erfahrene Künstler neue digitale Inhalte für die digitale Welt produziertPeter Weibel, ZKM-Chef und Kurator der Schlosslichtspiele
Der ZKM-Chef ist auch für die digitale Ausgabe der Schlosslichtspiele künstlerisch verantwortlich. Corona habe die ganze Welt radikal in die virtuellen Welten gestoßen. Und Karlsruhe stehe bei der digitalen Innovation an der Front, erklärte Weibel im vor dem Showstart ausgestrahlten Talk mit Cheforganisator Martin Wacker.
Wacker versichert: Man habe die Schlosslichtspiele 2020 bewusst nicht einfach abgesagt. Um die Krise als Chance zu nutzen, habe die von der Unesco zur City of Media Arts ernannte Stadt Karlsruhe vielmehr den digitalen Weg beschritten - der somit zur Weltpremiere werde. „Andernorts wurden an sich analoge Inhalte ins Netz gesetzt. In Karlsruhe haben digital erfahrene Künstler neue digitale Inhalte für die digitale Welt produziert”, so Weibel.
„Abbruch Realität - Aufbruch Virtualität” ist das Format überschrieben, das der ZKM-Chef nicht als Geister-Show verstanden wissen will. Er spricht von einem non-lokalen Publikum. „Die Zuschauer sind keine Geister.”
Die Kommissionspräsidentin schaltet sich beim Thema Klimawandel ein
Dabei wird man am Tablet, Handy oder Rechner mit dem Sterben konfrontiert. Die Bielefelder Gruppe The Nightlab (TNL) stellt in „Attitude Indicator” die Menschheit an den Scheideweg: In acht Szenen wird die Zukunft der Erde gezeichnet - auf der linken Hälfte der Schlossfassade lodert Feuer auf dem Globus. Rechts bleibt der Planet blau, grün und lebendig. Dramatisch setzt das Werk Herzkurven ein - ein Spiel mit Leben und Tod als Gänsehautmoment.
Die Botschaft dieser neuen Show lautet: Ihr habt es in der Hand! In welcher Welt wollt ihr Leben? EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kämpft für dieses Thema. Sie schickt zur Premiere einen Videogruß nach Karlsruhe. Sie eröffnet so offiziell die Schlosslichtspiele 2020, die in beiden neuen Shows den Blick auf Europa, auf Nachhaltigkeit und den Green Deal lenken.
Bildhaft geschieht dies im Werk von TNL, in dem Unterwasserwelten, Blüten und die EU-Flagge auf der Schlossfassade erscheinen. Die Gruppe Ruestungsschmie.de bleibt in ihrem Beitrag Changes3 abstrakt, Linien und Muster wechseln sich ab. Und dann steht auf der virtuellen Fassade: Europa.
Bis zum 13. September können sich immer ab 20.15 Uhr Zuschauer in die Shows einwählen, das Programm wechselt. Es gibt ein Wiedersehen mit beliebten Werken der Vorjahre. Die beiden neuen Beiträge sind jeden Tag dabei. Und 2021? Da wünscht sich Oberbürgermeister Frank Mentrup zweigleisige Lichtspiele: Die echten im Herzen der Stadt sowie ergänzend den jetzt gestarteten digitalen Zwilling, um die ganze Welt beteiligen zu können.
Denn wo auch immer das heimische Sofa steht - man kann sich von dort ans Schloss beamen. Die Macher der Schlosslichtspiele hoffen, dass sich auf der ganzen Welt Zuschauer finden, von denen nächstes Jahr vielleicht der eine oder andere nach Karlsruhe reist, um die Shows live vor Ort zu erleben - womöglich auf einem klapprigen Campingstuhl und mit ganz vielen Zuschauern vor der Nase.