Ziemlich genau vor 20 Jahren, am 13. Mai 2002, konnten schwer suchtkranke Menschen in Karlsruhe und Umgebung zum ersten Mal die Ambulanz der Arbeiterwohlfahrt (AWO) nutzen, um sich den Ersatzstoff Diamorphin zu spritzen.
Damals waren die Vorbehalte gegen die Idee, dass Drogenabhängige solche Ersatzstoffe quasi auf Rezept erhalten, noch groß. Vorbehalte gebe es zwar immer noch, sagt AWO-Geschäftsführer Markus Barton, die Diskussion werde heute aber differenzierter geführt.
Rund 50 Personen kommen in die Ambulanzpraxis in der Ritterstraße und erhalten bis zu zweimal täglich das Opioid Diamorphin, das auch in der Anästhesie eingesetzt wird. Daneben erhalten 150 weitere Personen den Ersatzstoff Methadon. Das Diamorphin verursache keine Langzeitschäden, so Ambulanzleiter Christoph Stoll.
Wann Abhängige in der Karlsruher Ambulanzpraxis Ersatzstoffe bekommen
Bevor es jedoch zu einer Behandlung kommt, sind zunächst ausführliche Gespräche zwischen Stoll und dem Patienten notwendig. „Ich muss mich davon überzeugen, dass ein Mensch wirklich so schwer krank ist, dass er den Ersatzstoff bekommen kann.“
Dazu gehört unter anderem, dass eine Person schon mindestens fünf Jahre abhängig ist und andere Ersatzbehandlungen, Entgiftungsversuche oder Rehas gescheitert sind. Hinzu kommen oft psychische Erkrankungen und körperliche Schädigungen, die der jahrelange Konsum von harten Drogen wie Heroin verursacht hat.
Manche landen schon mit 19 auf der Intensivstation und wir können sie aber dann nicht aufnehmen.Christoph Stoll, Ambulanzleiter
Viele der im Durchschnitt 46 Jahre alten Patienten sind drogenabhängig geworden, weil sie eine schlimme Kindheit mit Gewalt und sexuellem Missbrauch hinter sich haben. Deutlich mehr als zwei Drittel der Patienten sind Männer. Das Mindestalter für eine Aufnahme ins Programm ist 23 Jahre. Das wird von Stoll kritisiert. „Manche landen schon mit 19 auf der Intensivstation und wir können sie aber dann nicht aufnehmen.“
Drogenabhängige setzen sich die Spritze unter Aufsicht der Krankenschwester
Diejenigen, die das Diamorphin erhalten, landen bei ihren täglichen Besuchen in der Ambulanz bei Krankenschwester Patricia Bouzidi. Im „Vergaberaum“ bereitet sie eine sterile Spritze mit dem individuell dosierten Opioid vor und schiebt sie auf einem Tablett unter einem kleinen Fensterspalt hindurch in den „Konsumraum“.
Dort nimmt es der Patient in Empfang und setzt sich die Spritze unter Aufsicht der Krankenschwester selbst. Sie sehe durch die Behandlung Verbesserungen bei den Menschen. „Sonst würde ich hier nicht arbeiten“, betont sie.
Ersatzstoffe ermöglichen Karlsruher Drogenabhängigen eine Tagesstruktur
Die kontrollierte Abgabe des Stoffs ermöglicht vielen Betroffenen eine Tagesstruktur und die Chance, die mitunter lange vernachlässigte Eigenfürsorge in den Blick zu nehmen. Beispielsweise für einen notwendigen Zahnarztbesuch, der ansonsten unter den Tisch fallen würde. Auch die möglichen negativen Folgen, etwa durch Beschaffungskriminalität, bleiben aus.
Klar ist aber auch: 85 Prozent der Personen in der Behandlung bleiben dauerhaft abhängig, weiß Stoll. Abstinenz sei deshalb nicht das unbedingte Ziel der Behandlung. Gleichwohl versuche man immer wieder, Dosierungen zu reduzieren.
Das Diamorphinprogramm war ein Segen, ohne das wäre ich schon lange tot.Thomas E., Patient
Der älteste Patient, Thomas E., ist 74 Jahre alt. Er kommt ebenfalls zweimal täglich zur Behandlung. Aufgrund dessen ist er in der Lage, ein reguläres Leben zu führen und hat wieder Kontakt zu seinen Töchtern und Enkeln aufgenommen – ein Positivbeispiel. „Das Diamorphinprogramm war ein Segen, ohne das wäre ich schon lange tot.“