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Verbreitetes Leiden

Tinnitus: Wie man in einer Karlsruher Klinik gegen den Lärm im Kopf ankämpft

Sie werden durch Pfeifen oder Piepen im Ohr gestört, die für niemanden außer ihnen wahrnehmbar sind. Millionen Menschen haben Tinnitus-Beschwerden. Moderne Therapien können helfen.

Ein Musikgenie verzweifelt Anfang des 19. Jahrhundert an seinem Leiden, das kein Außenstehender nachvollziehen kann. Er fühlt sich hilflos und einsam. Heutzutage wird dem Leiden ein Aktionstag gewidmet. Am Freitag, 3. März ist Welttag des Hörens.

„Meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht“, schreibt im Juni 1801 Ludwig van Beethoven in einem Brief an einen Freund. „In meinem Fach ist es ein schrecklicher Zustand... ich bringe mein Leben elend zu.“ Einer der größten Komponisten aller Zeiten führte seine Beschwerden auf das Werk eines „neidischen Dämons“ zurück – und folgte damit einem berühmten Leidensgenossen.

Auch Martin Luther hat für seinen Tinnitus den Teufel verantwortlich gemacht. Das „Klingeln der Ohren“, so die deutsche Übersetzung des Fachbegriffs, hat die Menschen seit Tausenden Jahren geplagt. Manche Ärzte verschrieben dagegen mit „Zedernblut“ besprenkelte Myrrhe als Heilmittel. Das dürfte wohl kaum geholfen haben. Mit den medizinischen Mitteln unserer Zeit hätten Beethoven und Luther dagegen wohl ein erträgliches Leben führen können.

Jeder Vierte hört Ohrgeräusche

So wie es viele Betroffene heute tun. Tinnitus ist als Symptom weit verbreitet: Etwa 25 Prozent der Bundesbürger hören zeitweise störendes Pfeifen, Piepen, Klingeln, Sausen und Rauschen in einem oder beiden Ohren. Fünf Prozent, das sind immerhin einige Millionen, leben ständig mit chronischem Tinnitus.

Die gute Nachricht ist: Der Lärm im Kopf muss kein Weltuntergang sein. Er kann in den Hintergrund treten. Es ist mittlerweile eher die Ausnahme, dass die Betroffenen nach einer Therapie nicht zu ihrem normalen Leben zurückkehren können.

Serena Preyer sagt es in ihrer Sprechstunde immer wieder: „Ohrgeräusche sind relativ normal. Niemand muss Angst haben, dass man deswegen psychisch erkrankt.“ Die Leiterin der Karlsruher ViDia Klinik für HNO-Heilkunde hat mit dieser Botschaft positive Erfahrungen gemacht.

„Die meisten Patienten sind dann erst einmal beruhigt.“ Das sei eine gute Voraussetzung dafür, dass das Brummen nicht im Gehirn abgespeichert werde und sich damit zu einer Krankheit entwickle, erklärt eine der führenden Expertinnen für Tinnitus in Deutschland.

Niemand muss Angst haben, dass man wegen Ohrgeräuschen psychisch erkrankt.
Serena Preyer, ViDia-Klinikchefin

Der laute „Dämon“ im Kopf setzt dem Menschen dort zu, wo er besonders verwundbar ist. Das Hören ist der komplexeste unserer Sinne. Er macht nie Pause: Wir hören immer etwas. Sind unsere Ohren jedoch stark strapaziert oder geschädigt, senden sie manchmal Signale an das Gehirn, ohne zuvor eine Schallwelle empfangen zu haben. Wenn das länger anhält, kann das fein abgestimmte System aus der Balance geraten.

So klingt es, wenn Serena Preyer das Phänomen der „klingelnden Ohren“ erklärt. „Die gängige Hypothese ist, dass ein Innenohrschaden sie auslöst“, sagt die Medizinerin. Wenn das Schallsignal nicht im Gehirn ankomme, versuche das System, einem Abfall an Aktivität entgegenzuwirken und verstärke die Wahrnehmung. Man nehme dann ein Phantomgeräusch wahr. „Längerfristig lernt das Gehirn dieses Geräusch, als würde es zum Leben gehören, so verselbständigt sich das.“

Emotionale Verknüpfung wird zum Problem

Zum Problem wird Tinnitus, wenn sich diese Hörempfindung mit bestimmten Hirnregionen verknüpft, die unsere Emotionen steuern: Dann rückt der andauernde Lärm im Kopf so sehr in den Vordergrund, dass die Betroffenen nachts keine Ruhe finden und sich im Alltag nicht mehr konzentrieren können. Laut Preyer steigt das Tinnitus-Risiko im Laufe des Lebens.

Das Symptom werde unter anderem mit Schwerhörigkeit assoziiert, die besonders bei älteren Menschen häufiger vorkomme. Meist sind es jedoch 30- bis 50-Jährige, die in Ihrer Klinik in der Karlsruher Weststadt um Rat und Hilfe bitten.

Es fühlt sich an, als würde man gegen eine Wand fahren.
Serena Preyer, Ohrenspezialistin aus Karlsruhe

Oft seien dies „junge und dynamische Menschen, die mitten im Leben stehen, Familien haben, Karriere machen und sich durch Tinnitus stark eingeschränkt fühlen“, berichtet die Expertin. „Mit dem Kontrollverlust kommen Versagensängste, Niedergeschlagenheit und depressive Verstimmungen. Es fühlt sich an, als würde man gegen eine Wand fahren.“

Auch bei Kindern und Jugendlichen können quälende Geräusche im Ohr vorkommen. Sie erinnert sich an den Fall eines 17-Jährigen, der die Schule abbrechen musste: „Der junge Mann war völlig behindert in seinem normalen Leben, das war furchtbar.“

Für störende Ohrgeräusche gibt es viele Ursachen. Zum Beispiel eine genetische Veranlagung, die eine britische Studie nachgewiesen hat. In der Pandemie wurde bekannt, dass Sars-CoV-2 den Hörnerv angreifen kann. Auch hoher Blutdruck, Mittelohrentzündungen oder mit Ohrenschmalz verstopfte Gehörgänge können Tinnitus auslösen.

Eine aktuelle dänische Studie führt das Symptom auf eine große akustische Belastung durch den Straßenverkehr zurück. Dieser Befund steht im Einklang mit den gut erforschten negativen Auswirkungen von Lärm auf unser Gehör.

Auch anhaltender Stress führt in manchen Fällen zu Tinnitus. Serena Preyer spricht in diesem Zusammenhang von emotionalen Lasten auf unseren Schultern, die sich körperlich bemerkbar machen: „Wir verspannen uns, beißen die Zähne zusammen und knirschen mit ihnen. All dies kann sich verstärkend auf das Hörgeräusch auswirken.“ Laut der erfahrenen Spezialistin sei das unangenehme Ohr-Rauschen in vielen Fällen nicht vermeidbar – aber man könne einiges tun, damit daraus keine chronische Krankheit entsteht.

Entspannung macht Ohrgeräusche leiser

„Der erste Schritt ist es, zum HNO-Arzt zu gehen. Er wird nach Defekten in der Hörbahn suchen, die den Tinnitus ausgelöst haben könnten“, sagt Preyer. „Dieses Gespräch sollte dem Patienten vermitteln, dass es sich um eine harmlose Erkrankung handelt, die keine schlimmen Konsequenzen hat.“ Nicht selten würden die Geräusche verschwinden oder leiser werden, wenn man sich entspannt. Sollten die Symptome die Betroffenen stark belasten, habe sich die kognitive Verhaltenstherapie bewährt.

Sie zielt darauf ab, das Problem abzumildern. „Man versucht, die Verbindungen zum Gefühlssystem zu schwächen. Tinnitus verschwindet dann nicht ganz, stört aber weniger“, erklärt Preyer. „Die Patienten müssen sich allerdings auf die Therapie einlassen und mitarbeiten.“ So helfe es, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu praktizieren. Schwere und mit Depression verbundene Fälle würden in Spezialkliniken behandelt werden.

Karlsruher Ärztin empfiehlt Achtsamkeit im Alltag

Die Klinikchefin empfiehlt den Betroffenen, sich im Alltag zu beobachten: Wann wird das Pfeifen im Kopf lauter? Und was tut mir gut? „Das kann ein schöner Abend mit Freunden sein, ein Spaziergang im Wald oder das Blumengießen im Garten. Wenn das Ohrgeräusch leiser wird, kann ich das bewusst nutzen.“ Um den Stresspegel zu senken, hätten sich beispielsweise die progressive Muskelentspannung, Yoga oder Tai Chi bewährt.

Preyer sieht bei Tinnitus noch viel Forschungsbedarf. Idealerweise werden die Ärzte eines Tages bei ihren Patienten individuelle Auslöser für das „Klingeln der Ohren“ finden und sie gezielt behandeln. Noch besser wäre ein Lautlos-Schalter im Kopf, den man einfach drücken könnte, sagt die Karlsruherin. „Leider wird das aber ein unerfüllbarer Traum bleiben.“

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