Die russischen Raketen töten 25 Menschen, darunter drei Kinder. Auf einem Video im Internet sieht man, wie die Wucht der Explosionen das Fenster eines Cafés ausreißt und einen Fahrradfahrer zu Boden schleudert. Schwarze Trümmerteile fallen auf Passanten herab, ein angeleinter Hund reißt sich los und rennt in Panik davon.
Der 14. Juli war ein schwarzer Tag in der ukrainischen Stadt Winnyzja, die bis heute unter den Folgen des Raketenbeschusses leidet. Der angeblich von einem russischen U-Boot im Schwarzen Meer gestartete Angriff hat fast 70 Wohnhäuser zerstört und einen Offiziersclub verwüstet, in dem ein junger Tontechniker der Sängerin Roxolana starb.
Die Ukrainerin hätte im Club auftreten sollen. Vor wenigen Tagen widmete sie auf Youtube ihr Lied „Ne bojsja“ („Hab keine Angst“) den Opfern. Ihr Herz sei gebrochen, schrieb sie: „Aber wir müssen nach vorne gehen, das Leben fest im Blick.“
Erstmals weltweit Schlagzeilen gemacht
Durch den Krieg haben viele Menschen weltweit wohl zum ersten Mal etwas von der schönen Stadt am Ufer des Flüsschens Juschny Bug (Südlicher Bug) erfahren.
Das etwa 370.000 Einwohner zählende Winnyzja im Zentrum der Ukraine blickt auf eine lange, wechsel- und auch leidvolle Geschichte zurück. Die designierte Partnerstadt des etwa 1.600 Kilometer entfernten Karlsruhe hat aber auch selbst die Weltgeschichte mitgeprägt, wovon heute zwei ganz besondere Sehenswürdigkeiten zeugen.
Platsch! Am nördlichen Rand von Winnyzja konnte man früher im Sommer beobachten, wie ukrainische Kühe als ausgleichende Gerechtigkeit die Überreste eines deutschen Kriegsbunkers mit ihren Fladen bombardierten.
Nicht irgendeinen Bunker: Es ist die frühere Kommandozentrale Adolf Hitlers „Werwolf“. Das in Trümmern liegende Ex-Hauptquartier, von dem aus der Führer Osteuropa erobern wollte, diente einst den Stadtbewohnern als ein beliebter Picknickort.
Geheime unterirdische Befehlszentrale
Bis Juli 1942 hatte hier die „Organisation Todt“ eine riesige militärische Anlage gebaut. Sie beherbergte eine unterirdische Befehlszentrale, Speisehallen, einen Sportsaal, Wohnhäuser und Bombenkeller mit drei Meter dicken Wänden.
Gepanzerte Telefonkabel verbanden den „Werwolf“ direkt mit Berlin. Wie es heißt, hatte die Nazi-Führung aus Sicherheitsgründen fast alle der beteiligten Kriegsgefangenen nach dem Ende der Bauarbeiten töten lassen.
Hitler hatte wiederholt den „Werwolf“ besucht, einmal im Sommer 1942 und zweimal im Jahr danach. Als die Truppen der Wehrmacht 1944 mit dem Rückzug von der Ostfront ihr Hauptquartier aufgeben mussten, haben sie die Bauten zerstört.
Hitlers früheres Schwimmbad blieb dabei weitgehend intakt und wurde in der Sowjetzeit als Jauchegrube für die benachbarte Kolchose „Rodina“ (Heimat) genutzt. Später erklärte der KGB das Gebiet zur Sperrzone.
Gerüchte über radioaktive Strahlung
Vielleicht war es der sowjetische Geheimdienst, der in und um Winnyzja eine Legende von der „teuflischen Macht“ dieses Ortes entstehen ließ, um jegliche Ausgrabungen zu verhindern.
Noch lange nach dem Ende der Sowjetunion wurde in der Stadt über eine angebliche erhöhte radioaktive Strahlung am verfluchten Hauptquartier gemunkelt.
Neben dem „Werwolf“ verkörpern andere Denkmäler in Winnyzja die dunklen Seiten im Leben der 1355 erstmals urkundlich erwähnten Stadt. 1937 und 1938 hatte dort der KGB-Vorläufer NKWD beim sogenannten „Großen Terror“ mindestens 9.000 politische Gefangene getötet. Nach der Einnahme der Stadt im Herbst 1941 hatten die Nazi-Besatzer dort weitere etwa 25.000 Menschen massakriert, darunter viele Juden.
Erfinder der Feldchirurgie
Dagegen steht der Name Nikolaj Pirogow symbolisch für das Gute in Winnyzjas Geschichte. Der russische Arzt, der im 19. Jahrhundert gelebt hat, hat als Begründer der Feldchirurgie die Kriegsmedizin revolutioniert und somit weltweit unzähligen Soldaten auf dem Schlachtfeld das Leben gerettet.
Auf Pirogow geht auch das Prinzip der Triage zurück – ein Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung bei knappen Ressourcen, das in Kriegen breit angewendet wird und die Gesundheitspolitiker während der Corona-Pandemie beschäftigt hat.
Pirogow hatte an seinem Lebensende etwa 20 Jahre lang in Winnyzja gelebt. Nach seinem Tod im November 1881 wurde sein Körper in einem innovativen Verfahren einbalsamiert, wozu sich die beteiligten Ärzte eine spezielle Erlaubnis der russisch-orthodoxen Kirchenführung eingeholt hatten.
Wie es hieß, solle der Leichnam des „vorbildlichen Christen und weltweit berühmten Wissenschaftlers“ für immer bewahrt werden, damit die Menschen die „Lichtgestalt“ sehen können.
Zwei Mumien ziehen Touristen an
Die Mumie von Pirogow ist bis heute relativ gut erhalten, sie kann in der Gruft einer Kirche nahe seines früheren Wohnhauses besichtigt werden. Besonders bemerkenswert: Auch der russische Revolutionsführer Wladimir Lenin war nach seinem Tod 1924 einbalsamiert worden, doch sein Leichnam im Mausoleum am Roten Platz verfällt angeblich schneller.
In Winnyzja fanden das früher viele symbolhaft: Der gütige Arzt habe den umstrittenen Erfinder des roten Terrors lange „überlebt“.