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Kritik an Verordnungen

Karlsruher Jurist zu Corona: "Sehr viele Regelungen nicht verhältnismäßig"

Die Corona-Verordnungen der Landesregierung bestimmen derzeit den Alltag der Menschen in Baden-Württemberg. Der Verwaltungsjurist Jan-Dirk Rausch aus Karlsruhe-Durlach fordert in der Corona-Krise einen Ausbau lokaler Kompetenzen.

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Der Karlsruher Jurist Jan Dirk Rausch. Foto: jodo

Der Mindestabstand beim Einkaufen wird in den Corona-Verordnungen genauso detailliert festgelegt wie die maximale Anzahl von Sportlern auf einen Fußballfeld. BNN-Redakteur Ekart Kinkel hat sich mit Verwaltungsrechtler Jan-Dirk Rausch über die Verordnungen unterhalten. Der promovierte Jurist und Durlacher Kommunalpolitiker lehrt in Heidelberg und Freiburg und hat jüngst das Buch „Landesrecht Baden-Württemberg“ veröffentlicht.

Während der Corona-Krise werden die Menschen mit vielen Zahlen konfrontiert. Neben der Zahl der Neuinfektionen und dem Reproduktionsfaktor gibt es auch zahlreiche Verordnungen zum Umgang mit der Krise. Wer denkt sich eigentlich Zahlen wie 800 Quadratmeter Ladenfläche oder 1,5 Meter Mindestabstand aus?

Alle wollen verhindern, dass sich jemand ansteckt. Deshalb müssen die Länder objektive Kriterien finden, wie das geht.

Rausch: Da muss man weiter vorne anfangen. Das Infektionsschutzgesetz ist ein Bundesgesetz. Und Bundesgesetze werden grundsätzlich von den Ländern ausgeführt. Das bedeutet, dass die Landesbehörden für die Anordnung der einzelnen Maßnahmen zuständig sind. Und die Länder sind wiederum aufgespalten in Ministerien, Landratsämter und Stadtkreise. Alle wollen verhindern, dass sich jemand ansteckt. Deshalb müssen die Länder objektive Kriterien finden, wie das geht. Im Föderalismus kann dabei jeder eine andere Idee haben. Ob diese Idee die richtige ist, sieht man beim Infektionsschutz erst hinterher. Wie unterschiedlich einzelne Gesetze interpretiert werden können, sieht man derzeit auch am Beispiel der Tattoos bei Polizisten. Das ist in manchen Bundesländern verboten und in anderen erlaubt.

… doch nun zurück zur Eingangsfrage …

Rausch: … weil die Begriffe im Infektionsschutzgesetz recht unbestimmt sind, versucht man möglichst objektive Kriterien zu finden. Dann können Polizei oder Kommunen die Verordnung besser kontrollieren und mögliche Verstöße ahnden.

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Die 800 Quadratmeter sind dabei eine Zahl, die aus dem Baurecht kommt. Da gibt es den Begriff des großflächigen Einzelhandelsbetriebs und dieser hat mit dem Infektionsschutz zunächst einmal überhaupt nichts zu tun. Die Frage ist jedoch, ob die ergriffenen Maßnahmen zum Schutz der Volksgesundheit geeignet, erforderlich und angemessen sind. Da kann man bei sehr vielen Maßnahmen sicherlich berechtigte Zweifel haben und auch deshalb wurde die Verordnung mit den 800 Quadratmetern teilweise von den Gerichten auch aufgehoben. Man will schließlich erreichen, dass man sich nicht ansteckt. So hat man sich vor allem auf den Mindestabstand von 1,50 Meter geeinigt. Unter diesem Abstand ist die Ansteckungsgefahr nach Einschätzung von Virologen hoch. Deshalb muss man das so hinnehmen, hat allerdings noch Rechtsschutzmöglichkeiten.

Sind die Zahlen rechtlich haltbar? Oder anders gefragt: Spielt es für den Gesundheitsschutz wirklich eine Rolle, ob sich zwei oder drei Leute gleichzeitig auf der Straße treffen?

Rausch: Ich gehe davon aus, dass sehr viele Regelungen nicht verhältnismäßig sind, weil es mildere Maßnahmen zum Erreichen der Ziele gibt. Aber die Gerichte haben ein anderes Problem. Erstens brauchen sie einen sachverständigen Rat, weil Juristen die Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen nicht alleine beurteilen können.

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Zweitens gibt es keine Anhaltspunkte aus Parallelverfahren in der Vergangenheit, weil es so etwas in diesem Maße in Deutschland noch nicht gab. Deshalb betreten alle Juristen in der Corona-Krise Neuland. Außerdem wurde die Corona-Verordnung bereits schon bald ein dutzendmal erneuert. Die einzelnen Verordnungen sind deshalb auch keine juristischen Meisterleistungen. Allerdings müssen die Ministerien auch immer wieder von Neuem auf die aktuelle Situation reagieren.

Trotzdem oder genau wegen dieser komplizierten Rechtslage werden die Leute zunehmend unsicher. In Sportvereinen dürfen Kinder rund um die Uhr betreut werden, in Kitas noch nicht. Wie soll man das den Menschen erklären?

Rausch: Eine Verordnung ist eigentlich für alle Fälle in Baden-Württemberg formuliert. Das ist gleichzeitig auch die Schwierigkeit. Im schlimmsten Fall müssen Gerichte über die einzelnen Punkte entscheiden. Objektiven Schutz und Rechtssicherheit wird es allerdings erst geben, wenn es eine Grundsatzentscheidung zum Gesundheitsschutz in der Corona-Krise gibt. Das wird aber nicht einfach. Das Bundesverfassungsgericht hat schließlich schon zwei Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen. In einer wurde gefordert, dass es mehr Lockerungen geben muss, in der anderen, dass es keine Lockerungen geben dürfe. Beide Seiten haben sich in der derzeitigen Situation aus komplett unterschiedlichen Gründen in ihren Grundrechten beeinträchtigt gefühlt.

Was könnte künftig zur Entspannung beitragen?

Rausch: Wir bewegen uns nach wie vor auf rechtlich unsicherem Terrain. Aber bei der Abwägung zwischen Grundrechten wie Handlungsfreiheit und Berufsfreiheit einerseits und Gesundheitsschutz andererseits tut man gut daran, in jedem Landkreis und jeder Gemeinde möglichst flexibel zu reagieren. In einer Gemeinde mit niedrigen Infektionszahlen kann man die Kitas öffnen und Sport zulassen. In einem anderen Fall eben nicht. Ich kenne das Problem übrigens aus eigener Erfahrung. In meinen beiden Unterrichtsorten Heidelberg und Freiburg gab es vor der einheitlichen Corona-Verordnung unterschiedliche Regelungen zur Gruppengröße. Natürlich gibt es für jede Maßnahme auch Argumente. Deshalb sollte man die Sache regional regeln und den Gesundheitsämtern und den Behörden vor Ort mehr Möglichkeiten einräumen. Das ist mein persönlicher Appell an die Landesregierung.

Reicht es nicht aus, den Leuten zu sagen, sie sollen unnötige Kontakte vermeiden und Abstand halten?

Rausch:
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