Seit mehr als drei Jahrzehnten sind die Weingartner Musiktage junger Künstler ein gut besuchtes Musikfestival in der Region. Diesen Oktober fällt das Ereignis aus. Reinhold Friedrich, Professor an der Musikhochschule Karlsruhe, weltbekannter Startrompeter, der in Weingarten aufgewachsen ist und in Kürnbach lebt, hat den Musikzyklus begründet und ist dessen künstlerischer Leiter.
Im Gespräch mit unserem Redaktionsmitglied Dietrich Hendel berichtet Friedrich davon, wie stark die Corona-Pandemie die Kunst im Allgemeinen, die Musik im Besonderen betroffen hat.
Wie sehr schmerzt es Sie, dass die Weingartner Musiktage ausfallen müssen?
Reinhold FriedrichEs ist besonders schmerzhaft, weil wir 2020 das 40. Jahr gefeiert hätten. Da wir auch alle langsam älter werden, wissen wir ja nicht, wie lange oder wie oft wir solche Feste noch feiern können. Wir werden diesen Jahrestag gebührend nachfeiern.
Viele Veranstaltungen laufen per Video. Warum ist das keine Option für die Musiktage?
FriedrichWir haben alle denkbaren Möglichkeiten durchgespielt, wie wir das Festival in einer anderen Form feiern können. Internet war dabei auch eine Option. Eine weitere wäre gewesen, viele, viele kleinere Veranstaltungen im Ort zu verteilen, um sich auch in der Krise bemerkbar zu machen. Zum Glück hatten wir im Februar eines unserer beiden geplanten Sonderkonzerte geben können. Als im März der Lockdown kam und mein letztes Konzert in der Berliner Philharmonie vor leeren Rängen stattfand, mussten wir schon erkennen, dass wohl nichts mehr geht. Dann gab es eine lange Zeit der Hoffnung, dass sich die Situation bis September oder Oktober verbessert. Dem war leider nicht so. Unser geplantes Eröffnungskonzert mit großen Chor war undenkbar geworden.
Lässt sich das 2020 geplante Programm einfach auf 2021 verschieben oder müssen Sie jetzt ganz neu organisieren?
FriedrichDen größten Teil des Programms können wir nach 2021 verschieben, vor allem auch, weil die Künstler, die wir verpflichtet haben, uns extrem entgegengekommen sind. Einen kleineren Teil müssen wir neu organisieren. Der Jugendchor – der Dortmunder Jugendchor, der als bester in Deutschland gilt - kann nicht in kleinerer Formation auftreten, daher wissen wir nicht, ob wir ihn nächstes Jahr in Weingarten hören werden. Was wir auf jeden Fall anbieten können, sind Federspiel aus Wien und die Bläsergruppe Blechhaufen. Wie wir die Preisträger aus dem ARD-Wettbewerb und von Jugend musiziert integrieren können, kann man jetzt noch nicht absehen.
Apropos Organisationsaufwand: In früheren Musiktagen haben Sie üblicherweise ein Instrument in den Mittelpunkt gestellt. Warum hat man das aufgegeben?
FriedrichDas liegt daran, dass unser Hauptsponsor sich großen Teils zurückzieht, uns zwar immer noch unterstützt, aber das Sonderinstrument nicht mehr als wesentlich einschätzt. Die Konzentration auf ein Schwerpunktinstrument hat unsere gestalterische Freiheit schon eingeschränkt. Jetzt eröffnen sich uns unter neuen Voraussetzungen mehr Möglichkeiten.
Wie sieht es mit der Finanzierung des Festivals aus?
FriedrichDen größten Anteil der Einnahmen generieren wir aus Eintrittsgeldern. Dazu kommen Zuwendungen von Sponsoren. Wir hatten Glück, dass wir dieses Jahr noch nicht sehr weit haben in Vorlage treten müssen. Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen.
Sie selber sind weltweit unterwegs mit ihrem Instrument in so ziemlich allen bedeutenden Konzertsälen präsent. Wie stark hat Sie die Corona-Pandemie in Ihrer künstlerischen Entfaltung gebremst?
FriedrichWie sich eben eine Vollbremsung anfühlt, wenn man gewohnt ist, immer mit hohem Tempo unterwegs zu sein. Besonders schmerzlich war, die Absage meines Debüt-Konzerts in der Elbphilharmonie in Hamburg. Die Absage zum Beispiel des Lucerne-Festivals war gleichfalls sehr bedauerlich.
Welche Reaktionen haben Sie von Menschen gehört, die gebuchte Konzerte nicht erleben können? Wie groß ist das Verständnis?
FriedrichMan erhält als Veranstalter Rückmeldungen von Menschen, für die diese Konzerte einen Teil ihres Jahresablaufs bilden. Und plötzlich ist da Leere. Alle Video- oder Internet-Ersatzhandlungen können ein erlebtes Konzert nicht abbilden.
Wie haben sie es selbst erlebt, ohne Zuhörer zu spielen?
FriedrichEs fühlt sich nicht gut an, wenn man ohne Zuhörer spielt. Da fehlt einfach die Interaktion mit dem Publikum, das Knistern zwischen dem Musiker und den Zuhörern, oder - wie Martin Buber sagt - das „Du“.
Ausgefallene Auftritte bedeuten sicher auch wirtschaftliche Einbußen. Wie hart trifft Sie das?
FriedrichIch selber bin in einer extrem privilegierten Situation als hoch bestallter Musikhochschulprofessor. Trotzdem tun Verluste aus Konzerteinnahmen in hoher fünfstelliger Summe weh. Aber hart getroffen wird die ganze Freelance-Szene. Das wird Deutschland als Kulturnation zutiefst erschüttern mit zum Teil irreversiblen Schäden.
Welchen gesellschaftlichen Nutzen kann man Ihrer Meinung nach aus der Corona-Situation ziehen? Anders gefragt: Was lernen wir daraus?
FriedrichEin kleiner Nutzen, den die Corona-Krise uns aufzeigt, ist der, dass Musizieren und vor allem Unterrichten per Internet möglich sein muss. Der direkte Kontakt zwischen Lehrer und Schüler aber ist unersetzbar. Das gesamte Spielfeld unserer Spiegelneuronen, die zwischen Lehrer und Schüler permanent wirken und kommunizieren, findet in viel höherem Maß statt, wenn man sich gegenübertritt. Wir lernen daraus, dass wir Kultur und Kunst brauchen als wirkliches Lebenselixier. Weil Kunst und Kultur nicht systemrelevant sind. Sie sind das System.