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Neues aus dem Elternleben

Kinder sind unheimlich

„Weißt du, Mama, es gibt die Gestreiften und die Neuen. Die Gestreiften sterben bald, aber die Neuen, die bleiben am Leben.“ Manchmal wird man im Elternleben mit Sätzen konfrontiert, die geradezu Horrorfilmqualität haben.

Die Welt ist bunt: Vor allem mit Kindern.
Die Welt ist bunt: Vor allem mit Kindern. Foto: Dolgachov/Fotolia

Es war ein dunkler, regnerischer Märzmorgen, als die Gestreiften in unser Leben traten. Wir saßen im Auto auf dem Weg zur Kita. Lange Schnüre von Regentropfen peitschten gegen die Autofenster, die das unangenehm grelle graue Tageslicht, das uns die Augen zusammenkneifen ließ, nicht zu dämpfen vermochten. Plötzlich zerschnitt die Stimme des Vierjährigen die Stille: „Mama, sieh mal – da laufen die Gestreiften!“ Dann folgte ein Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Bald sind sie alle tot.“ „W... Wie bitte?“, stotterte ich und blickte im Rückspiegel in zwei nachdenkliche Augen. Eine Antwort bekam ich nicht.

Bald sind sie alle tot

Zwei Tage später brachte ich den Kleinen ins Bett. Viel zu hell schien der Vollmond in das Kinderzimmer, als ich seine Hand hielt und ihm dabei zusah, wie sein Atem immer ruhiger wurde. Als ich zum ersten Mal mit dem Gedanken spielte aufzustehen, öffneten sich seine Augen und er sah mich ernst an. „Weißt du, Mama, es gibt die Gestreiften und die Neuen. Die Gestreiften sterben bald, aber die Neuen, die bleiben am Leben.“ Erschrocken blickte ich ihn an. „Wer sind denn diese Gestreiften?“, fragte ich vorsichtig. Doch in diesem Augenblick schlief er ein.

Als würde der Junge von "The Sixth Sense" um die Ecke kommen

„Du tust so, als würde er demnächst um die Ecke kommen und wie der Junge von ,The Sixth Sense‘ verkünden, dass er tote Menschen sehen kann“, sagte mein Mann spöttisch, als ich ihm besorgt von den Gestreiften erzählte. Ich lachte nicht, so ähnlich war mir das nämlich durch den Kopf gegeistert.

„Zeig mir mal ein paar Gestreifte“, sagte ich am nächsten Tag zu meinem Kind, als wir abermals mit dem Auto unterwegs waren. „Da“, sagte er und zeigte auf eine Dame am Gehstock. „Und da“, sagte er und zeigte auf einen Herrn mit Hut. Ich verstand noch immer nicht. „Boah, Mamaaa, das ist doch pipileicht“, meldete sich seine ältere Schwester und verdrehte die Augen, „die Gestreiften sind Leute mit Falten. Und die Neuen sind die ohne!“ Ich rief: „Ach sooo!“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Unheimlich fand ich die gnadenlose Aufteilung meines Kindes weiterhin.

Du, bin ich eine Gestreifte?

Es dauerte ein paar Tage, bis ich allen Mut zusammennahm und dem Vierjährigen die Frage stellte, die mich umtrieb, seit ich die Wahrheit über die Gestreiften kannte: „Du, bin ich eine Gestreifte?“ Mein Sohn sah mich lange an. Zu lange. „Nein“, sagte er langsam, „aber ganz neu bist du auch nicht.“

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