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Wie wichtig ist Muttermilch wirklich?

Mütter, die nicht stillen wollen: „Es wird dir vermittelt, du bist unzureichend für dein Kind“

Nicht jede Mutter kann oder will ihr Baby stillen. Frauen, die ihren Kindern das Fläschchen geben, werden dafür jedoch häufig angefeindet. Sind Mütter, die nicht stillen, schlechtere Mütter?

Ein sitzendes Kleinkind trinkt Milch aus einem Fläschchen.
Muttermilch ist die beste Ernährung für ein Baby. Das sagen zumindest viele ÄrztInnen und Hebammen. Sind „Flaschenmamas“ aber deswegen die schlechteren Mütter? Foto: Anne-Sophie Bost / imago images / PhotoAlto

„Ich habe es versucht. So lange bis die Brustwarzen geblutet haben. Drei Wochen lang“, erinnert sich Susanne Garcia. Als sie ihr erstes Kind zur Welt brachte, wollte sie unbedingt alles richtig machen. Dazu gehörte, davon war sie damals überzeugt, auch das Stillen. „Jede Mutter weiß von Anfang an: Stillen ist das Wichtigste und das Beste. Das vermitteln dir die Hebammen und alle drumherum, die kleine Kinder haben“, so die Rheinstettenerin.

Doch es funktionierte nicht, obwohl die junge Mutter sich nach Kräften darum bemühte. „Du kriegst keine Minute Schlaf, wenn es mit dem Stillen nicht klappt. Du gehst am Stock, wenn du wochenlang das Kind alle 15 Minuten anlegen musst“, erinnert sie sich. „Ich saß nur noch auf dem Sofa. Verschwitzt. Stinkend. Mit Still-Hütchen. Mit Pumpe. Ich konnte mich nicht mehr frei bewegen. Ich war einfach durch.“

Garcia entschied sich schließlich dafür, ihrem Kind die Flasche zu geben. Damit hörten die Sorgen aber nicht auf. „Wenn du rausgehst und die Flasche auspackst, dann hast du verloren“, sagt sie. „Es wird dir vermittelt, du bist unzureichend für dein Kind. Du lebst immer in dem Gefühl, du tust nicht genug. Du hast es nicht genug versucht.“ Für eine junge Mutter sei das besonders schlimm.

Stillen ist natürlich - aber ist das wichtig?

Neben Vorwürfen, erhielt die Rheinstettenerin immer wieder ungefragt Ratschläge, wie sie ihre Kinder doch stillen könnte. „Ratschläge sind aber eben auch Schläge“, so Garcia. Oft hörte sie auch das vermeintliche Argument, Stillen sei nun mal natürlich. „Im Mittelalter sind die Kinder gestorben, die nicht trinken konnten. Das entspricht den Tatsachen“, sagt sie heute. „Aber hätte ich deswegen auf Natürlichkeit pochen und mein Kind verdursten lassen sollen?“

Das Thema Stillen mag heute, auch durch die sozialen Medien, mehr Aufmerksamkeit bekommen - neu ist die Debatte aber nicht. Die 69-jährige Marianne Schmidt (Name v. d. Redaktion geändert) aus Karlsruhe hat Ähnliches wie Garcia erlebt. Als sie ihren Sohn zur Welt brachte, wollte sie ihren Beruf als Architektin nicht aufgeben. „Auch nicht für kurze Zeit“, sagt sie. „Es war deshalb klar, bevor ich überhaupt schwanger war, dass auch mein Mann zumindest teilweise für unser Kind zuständig sein wird.“

Ebenso klar war für Schmidt aber auch: „Stillen wollte ich auf keinen Fall!“ Die Vorstellung, dass ihr ein kleiner Mensch an den Brustwarzen hängen würde, habe ihr Angst gemacht, sagt sie. Trotzdem sei sie nach der Geburt von den Hebammen bedrängt worden, das Kind doch zu stillen. „Mir wurde dann nicht nur von den Hebammen ein schlechtes Gewissen eingeredet, sondern auch von fremden Menschen in der Klinik, die mir vorschreiben wollten, wie ich mich zu verhalten habe“, sagt die Architektin. Für sie sei das auch deshalb schlimm gewesen, weil sie es gewohnt war, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Nach Schmidts Beobachtung seien es auch vor allem Frauen gewesen, die ihr Vorwürfe machten. „Mein Eindruck ist, dass man mit dem Stillen auch eine Frauendomäne verteidigt, um auch die Rolle der Mutter hervorzuheben und das typische Rollenbild aufrechtzuerhalten“, so die 69-Jährige.

Auch die zweitbeste Ernährung ist nicht zwangsläufig schlecht

„Es gibt gesellschaftlichen Druck in beide Richtungen - Stillen und Nicht-Stillen“, sagt Barbara Wagner, die Vorsitzende des Kreisverbands der Hebammen in Karlsruhe. Im Moment sei der Druck in Richtung Stillen größer, es habe aber auch Zeiten gegeben, in denen das umgekehrt war. Sie selbst betreue nicht-stillende Mütter genau so wie jene, die ihren Kindern die Brust geben, weise aber durchaus darauf hin, dass Muttermilch die geeignetste Ernährung für ein Kind sei. Trotzdem sei das Stillen nicht automatisch immer der beste Weg für Mutter und Kind.

„Ersatznahrung ist die zweitbeste Ernährung für ein Baby, nicht die beste. Das kann man nicht wegdiskutieren“, sagt Wagner. „Aber die zweitbeste Ernährung ist auch keine schlechte Ernährung.“ Eine Mutter, die ihr Kind mit der Flasche füttere, sei keine schlechte Mutter. Denn vor allem komme es darauf an, dass die Mutter-Kind-Bindung erhalten bleibe. „Und wenn die über das Nicht-Stillen besser und gesicherter ist, dann macht das vielleicht auch ganz viel wett“, so Wagner.

Wenn sie für ihr Kind da ist, ist sie eine gute Mama. Egal, wie das dann genau aussieht
Sylvia Keller, Stillberaterin am Klinikum Karlsruhe

Und was ist, wenn Mütter gerne stillen wollen, es aber nicht können? Sylvia Keller ist stellvertretende Pflegedienstleitung mit der Qualifikation Stillberatung am Klinikum Karlsruhe und sagt: „Wenn wir uns auf das rein Anatomisch-Physiologische beschränken, dann können 99 Prozent der Frauen stillen.“ Stresshormone könnten aber wiederum das „Stillhormon“ Oxytocin blockieren. Dann können Mutter und Kind in eine ähnliche Stress-Spirale geraten, wie sie auch Susanne Garcia erlebt hat.

„Der gesellschaftliche Druck für Frauen ist heute enorm“, sagt Keller. „Sie stehen in einem ständigen Spannungsfeld, ihren eigenen und gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Immer präsent zu sein, das Beste für das Kind im Fokus zu haben, den Haushalt zu schmeißen, schnell wieder top auszusehen und möglichst bald wieder zu arbeiten, können dabei potentielle Stressfaktoren sein. Dabei sollte das gerade in der Stillphase erst einmal nachrangig sein.“ Früher hatten Mutter und Kind gerade in der Phase nach der Geburt eher die Chance losgelöst von diesen potentiellen Ansprüchen, sich in Ruhe aufeinander einzustellen.

Bei Müttern, die gerne stillen möchten, gehe es deswegen vor allem auch darum, so viel Stress wie möglich zu reduzieren. Aber auch, wenn eine Mutter nicht stillen wolle, könne sie eine gute Mutter sein. „Wenn sie für ihr Kind da ist, ist sie eine gute Mama. Unabhängig einer Stillbeziehung“, sagt die Still-Beraterin.

Susanne Garcia hat ihre beiden Kinder nicht gestillt. Ihr Mann bestärkte sie in dieser Entscheidung. Das bedeutete für ihn zwar ebenfalls Fläschchen-Geben und schlaflose Nächte. Wie er nachts mit seiner Tochter auf dem Schaukelstuhl saß und sie fütterte, sei aber auch eine seiner schönsten Erinnerungen.

„Ich habe zwei gesunde Kinder. Ich weiß nicht, ob sie noch gesünder wären, hätte ich gestillt. Oder ob sie eine noch innigere Bindung zu mir hätten“, sagt Garcia heute. „Aber wenn das Beste, das Stillen, nicht geht und man mit dem Zweitbesten gut zurecht kommt, dann ist das doch alles in Ordnung.“

Die Weltstillwoche 2020

Die Weltstillwoche ist eine von der World Alliance for Breastfeeding Action (WABA) organisierte Aktionswoche. Sie gilt als die größte gemeinsame Kampagne aller das Stillen fördernden Organisationen, zu denen auch UNICEF und die WHO gehören. Sie wird seit 1991 jährlich in 120 Ländern abgehalten. In Deutschland findet sie immer in der 40. Kalenderwoche statt. In diesem Jahr ist es die Woche vom 28. September bis zum 4. Oktober.

Die Weltstillwoche findet jedes Jahr unter einem anderen Motto statt. Die Weltstillwoche 2020 betrachtet die Auswirkungen der Säuglingsernährung auf Umwelt und Klima und steht unter dem Motto „Die Natur lässt sich nicht kopieren.“

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