Das Mädchen Leonie markiert einen Meilenstein in der Familiengeschichte. Leonie ist der Name des ersten Damenbesuchs, den der nun bald dem Teenageralter entwachsene Sohn kürzlich mit nach Hause brachte. Der Versuch, das weibliche Wesen lautlos durchs Treppenhaus in sein Zimmer zu schleusen, scheiterte kläglich. Zugegeben – auch Tom Cruise hätte sich mit dieser Mission schwer getan. Unbekannte weibliche Wesen unbemerkt an zwei jüngeren Geschwistern und einer Mutter vorbei ins eigene Gemach zu locken – dafür braucht es Fähigkeiten, die heute höchstens noch der israelische Geheimdienst vermittelt.
Denn natürlich hatte die zehnjährige Leiterin des Innerfamiliären Aufklärungsdienstes (IfA) von ihrem Spähposten im ersten Stock des Einfamilienhauses die Ankunft des jungen Paares schon auf dem Radar, lange bevor der große Bruder seinen Hausschlüssel umständlich aus den Untiefen der Schultasche gefummelt hatte. Die Meldung an die Nachrichtenzentrale im Nebenzimmer erging unverzüglich. Nach Auswertung und Einordnung der Information – beides übrigens erfolgte in einer Geschwindigkeit, von der man am BND-Hauptsitz in Pullach nur träumen kann – war die Abfangjägerin in der Küche schon alarmiert und sofort für ihre erste Aufklärungsmission bereit.
Das Einsatzlehrbuch für Mütter im Erziehungskampf sieht für die „Operation Mystery Girl“ unter dem Code B-K-BC drei aufeinanderfolgende, standardisierte Handlungen vor. B steht für die Begrüßung der unbekannten weiblichen Person. Diese hat freundlich bis herzlich zu erfolgen und leitet in K für Kurzabfrage der bisherigen Biografie über. „BC“ steht für den vorläufigen Abschluss des Aufklärungseinsatzes im Hausflur: Im Background-Check wird versucht, so viel wie möglich über das familiäre Umfeld der Besuchsperson zu erfahren.
Leonie also. Nettes Ding. Vater ist Arzt! Schade, dass der Älteste die Präzision, mit der dieser erste Einsatz zu einem erfolgreichen Ende geführt wurde, überhaupt nicht würdigen konnte. Bei der abendlichen Manöverkritik am Familientisch stufte er sie sogar als latent peinlich ein.