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Zwischen Baikal und Mongolei

Burjatien: Russlands Tor zu Asien

Burjatien? Bei diesem Namen kapituliert selbst mancher Russe. Denn die 1923 gegründete Republik – immerhin so groß wie Deutschland, aber mit einer Million Einwohner viel dünner besiedelt – liegt näher an der Mongolei, als an Moskau.

Leninkopf in Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen Republik Burjatien
Der größte Lenin-Kopf der Welt: Fünf Meter misst das Denkmal für den Revolutionär in Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen Republik Burjatien Foto: wit
Burjatien? Bei diesem Namen kapituliert selbst mancher Russe. Denn die 1923 gegründete Republik – immerhin so groß wie Deutschland, aber mit einer Million Einwohner viel dünner besiedelt – liegt näher an der Mongolei, als am übermächtigen Moskau. 4 400 Kilometer sind es bis zur russischen Hauptstadt, 80 Stunden Fahrt mit der berühmten Transsibirischen Eisenbahn . Nach Ulaanbaatar, der kältesten Hauptstadt der Welt, sind es keine 600 Kilometer. Impressionen aus dieser kaum bekannten Republik unweit des legendären Baikalsees .

Bei den Altgläubigen in Burjatien

Galina erfüllt jegliches Klischee einer russischen Babuschka. Ihre Wangen glänzen rosig wie in der Rotkäppchen-Werbung. Ihr langes Haar ist zu einem dicken Zopf geflochten, und die knallig-bunte Volkstracht verhüllt nur mäßig die stattlichen Rundungen, die eine Vorliebe für fetten Speck, kräftige Eintöpfe und die in Burjatien allgegenwärtigen Teigtaschen verraten.

Wenn die 56-Jährige losbrettert, klingt es für Außenstehende wie ein Maschinengewehr – nur mit dem Unterschied, dass die lebenslustige Russin ihre Wortsalven mit einem strahlenden Lachen garniert. „Früher mussten die Frauen etwas fülliger sein, schließlich lastete alles auf ihren Schultern“, erzählt die Russin mit einem verschmitzten Grinsen.

Holzhäuser ...

Eine Minderheit im russischen Reich

Ihr größter Wunsch: die Traditionen der Altgläubigen – eine der vielen Minderheiten im russischen Reich – an ihre Enkelkinder weiterzugeben. Wenn sie gemeinsam mit ihrer neunjährigen Enkelin Nastja uralte Weisen anstimmt und sich zum Klang der Balalaika im Tanz wiegt, ist Galina in ihrem Element. Und natürlich kommt kein Besucher, der sich in diese Ecke Sibiriens verirrt hat, ohne zwei, drei, vier Gläser Wodka davon.

Galinas Heimat heißt Tarbatagay. Das kleine Dorf, etwa eine Stunde Fahrzeit von Burjatiens Hauptstadt Ula–Ude entfernt, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Kleine Holzhäuser, die mit ihren naiven Malereien in jedes Bilderbuch passen würden, scharen sich um das weiße Kirchlein der Altgläubigen. Archaische Ziehbrunnen tun in Kartoffel- und Rübenfeldern unverzichtbare Dienste. Über die staubigen Dorfstraßen, die sich nach jedem heftigen Regenguss in unpassierbare Schlammpisten verwandeln, rumpeln Pferdefuhrwerke. In den wahnwitzig kurzen Sommern liegt bleierne Schwüle über dem kaum besiedelten Landstrich südöstlich des legendären Baikalsees. Im endlosen Winter haben ihn Eis und Schnee im Griff.

Die Geschichte Sibiriens

Im 17. Jahrhundert eroberten Kosaken diesenLandstrich für das Zarenreich, der ein Sammelsurium an Völkern und ein Schmelztiegel der Religionen ist. Hier leben Ukrainer und Mongolen, Russlanddeutsche und Chinesen, Ewenken und Sojoten. Mönche aus Tibet und der Mongolei brachten den Buddhismus ins Zarenreich. Altgläubige wehrten sich gegen die aufgezwungenen Neuerungen der russisch-orthodoxen Kirche. Beide gemeinsam litten unter stalinistischer Verfolgung.

Entbehrungsreiches Leben

„Unsere Bräuche sind uns wichtig“, erzählt Alexander, einer der Söhne des Priesters, während er den Besuchern die uralten Ikonen präsentiert. Die berührenden Heiligenbilder, die von innen zu leuchten scheinen, sind der größte Schatz der Altgläubigen-Gemeinde, neben der nagelneuen Ikonenwand, an der Kunsthandwerker sechs Jahre lang gearbeitet haben.

Weit weg von der Kapitale Moskau ist das Leben entbehrungsreich, geben überlieferte Traditionen wie der zwölfstündige Gottesdienst in der Osternacht oder das Bekreuzigen mit zwei Fingern Halt und Orientierung. Die silbernen Kreuzanhänger, die von Galina und ihren Freundinnen gestrickten Mützen sowie die allerliebsten Holzanhänger für den Weihnachtsbaum spülen ein paar Rubel in die Gemeindekasse. Mit den Einnahmen soll im nächsten Jahr das Dach des kleinen Kirchleins repariert werden.

Burjatiens Hauptstadt Ulan-Ude

„Hier draußen sind wir auf uns gestellt“, erzählt der Priestersohn, der nur selten nach Ulan-Ude fährt. Warum auch? Die Stadt an der Mündung des Flusses Uda verbreitet mit ihren sozialistischen Mietskasernen an der Peripherie, den qualmenden Industrieschloten und der ausbaufähigen Müllentsorgung nur wenig hauptstädtisches Flair. Dabei hat die Stadtverwaltung einige Anstrengungen unternommen, um zumindest die kleine Fußgängerzone aufzuwerten, an deren Ende die prachtvolle blau-weiße Hodegetria-Kathedrale mit ihren vergoldeten Spitzen thront.

Ein Denkmal von Anton Tschechow

Blumenrabatte schmücken die Flaniermeile mit den Einkaufszentren, die reichlich fantasielos Leninstraße heißt. Kinder planschen an heißen Sommertagen in unzähligen Brunnen. Und der bronzene Anton Tschechow, der regungslos auf seiner Bank sitzt, ist ein beliebtes Fotomotiv bei den wenigen ausländischen Touristen, die sich nach Ulan-Ude verirren. Selbst der kolossale Triumphbogen, der anlässlich des Besuchs von Zar Nikolai II im Jahr 1891 errichtet wurde, erstrahlt wieder in majestätischem gelb-weiß.

Der größte Leninkopf der Welt

Die monströseste Erinnerung an die Vergangenheit findet sich vor dem Regierungsgebäude der Republik Burjatien, auf dem die russische und die burjatische Flagge wehen: Der fünf Meter hohe Leninkopf war in den 70er Jahren für den sowjetischen Pavillon auf der Weltausstellung im kanadischen Ottawa gefertigt wurden. Doch danach verschmähte jeder das bombastische Teil – im gesamten Sowjet-Imperium herrschte schließlich kein Mangel an Lenin-Denkmälern.

Ulan-Ude erbarmte sich schließlich, was böse Zungen mit der bissigen Bemerkung kommentierten, dass im fernen Burjatien ja schon immer die abgeschlagenen Köpfe der besiegten Feinde öffentlich zur Schau gestellt wurden.

Fast Food statt Teigtaschen

Sehr glücklich schaut der kommunistische Vordenker nicht auf das ziemlich weltliche Geschehen zu seinen Füßen auf dem riesigen Sovetskaja-Platz. Lenin blickt nicht nur düster von seinem Sockel, wie auch andernorts üblich. Sein Antlitz wirkt auch irgendwie schmerzverzerrt. Liegt es daran, dass Burjatiens Jugend lieber westlichem Fast Food, statt sibirischen Teigtaschen huldigt? Oder grämt er sich, weil Russlands Jugend laut der Umfrage eines Moskauer TV-Senders nicht mehr allzu viel mit dem Namen Lenin anzufangen weiß?

Immerhin will keiner der monströsen Büste an den Kragen, weil im Osten des riesigen Reiches keiner einen Gedanken ans Zertrümmern von Denkmälern verschwendet. Stattdessen sorgen sich die Menschen von Ulan-Ude um ihren Lenin, setzen ihm an eisig-kalten Wintertagen gar eine Münze auf das blanke Haupt.

Tanzende Fontänen vor der Burjatischen Nationaloper

Wenn an einem schönen Sommerabend die halbe Stadt auf den Beinen ist, sich Alt und Jung auf dem Platz vor der Burjatischen Nationaloper versammelt, die originell europäische, orientalische und fernöstliche Elemente verbindet, kann man sich kaum vorstellen, dass schon in wenigen Wochen wieder tiefster Winter herrschen wird. Junge Paare – sie Burjatin, er Russe – halten verliebt Händchen. Dreikäsehochs düsen mit dem Bobbycar über den Platz. Ältere Semester lauschen entzückt der klassischen Musik. Smetanas Moldau klingt über den Platz, Strauß` Donauwalzer, Strawinskys Feuervogel – Begleitmusik für das allabendliche farbenprächtige Schauspiel der tanzenden Fontänen. So weltlich war die Beschallung sicherlich nicht immer.

Die tanzenden Fontänen vor der Oper in Ulan-Ude - Youtube

Buddhismus in Putins Reich

30 Kilometer weiter südlich entdeckt der Reisende eine Seite Russlands, die er so nicht in Putins Reich vermuten dürfte: den Buddhismus. Das Kloster Ivolginsk mit seinen goldenen, grünen und blauen Dächern ist zwar nicht so prächtig wie die Tempel in Nepal, schon gar nicht so alt, doch dafür hat das zentrale Heiligtum der Buddhisten in Russland ein wahrlich wundersames Phänomen zu bieten. 1927 soll der Hohe Priester namens Daschi-Dorscho Itigelow verstorben sein, meditierend im Lotussitz.

Der lebende Tote

Doch als er 75 Jahre später öffentlichkeitswirksam exhumiert wurde, zeigte sich, dass die Leiche kaum Verwesungserscheinungen aufwies. Das Gewebe war weich, die Gelenke elastisch, der Körper wirkte mehr lebendig als tot. Er habe mit spiritueller Kraft die Grenze zwischen Leben und Tod verschoben, sagen die Mönche von Ivolginsk.

Pilger aus der nahen Mongolei

Dem Kloster in der burjatischen Steppe kommt die wertvolle Reliquie ziemlich gelegen. Ganze Busladungen kommen aus der nahen Mongolei herbeigeströmt. Asyl-Tibeter verschlägt es ins wunderschöne Selenga-Tal. Selbst Buddhisten aus Europa legen Tausende Kilometer zurück, um inbrünstig an Gebetsmühlen zu drehen und sich in die Schlangen vor dem Haupttempel einzureihen. Manchmal soll der schlafende Lama in seinem Glasgehäuse sogar mit den Augen zwinkern. Doch diesen Gefallen tut er nicht jedem.

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