Artistik ist eine Kunst zum Schauen und zum Staunen. Wie aber kann man sie Menschen mit Sehbehinderung zugänglich machen?
Dieser Frage stellt sich die belgische Gruppe Collectif Rafale in ihrer Produktion „Sanctuary Savage“, die nun im Tollhaus Karlsruhe zu sehen war.
Das Gastspiel war Teil eines Wochenendes unter dem Motto „La Nuit du Cirque“. Denn an diese im französischen Sprachraum bereits etablierte Veranstaltung, die jährlich Mitte November der Kunstform Zirkus ein Forum gibt, haben in diesem Jahr erstmals mehrere deutsche Institutionen angedockt.
Das Genre ist uns sehr ans Herz gewachsen.Bernd Belschner, Tollhaus-Geschäftsführer
Koordiniert durch das Forum Neuer Zirkus in Berlin gab es an insgesamt 19 Orten entsprechende Veranstaltungen.
In Baden-Württemberg hielt das Tollhaus die Fahne hoch und stärkte somit einmal mehr seine Rolle als Ort für zeitgenössische Artistik. „Das Genre ist uns sehr ans Herz gewachsen“, sagt Tollhaus-Geschäftsführer Bernd Belschner.
Neue Produktionen entstehen in Karlsruhe
Verweisen kann er hierbei nicht nur auf das 2016 gegründete und schnell sehr beliebt gewordene „Atoll“-Festival (jährlich im September).
Das Tollhaus bietet auch übers Jahr hinweg immer wieder internationale Gastspiele und seit einiger Zeit auch Räume für Künstler und Ensembles, um an ihren Stücken zu arbeiten.
Dies wurde nun ebenfalls bei „La Nuit du Cirque“ präsentiert. Denn aktuell entwickeln Kolja Huneck und Andrea Salustri im Tollhaus eine Performance, in der die Besucher selbst zu Akteuren werden und einander überraschende Erlebnisse verschaffen.
Einblicke in den aktuellen Stand dieser Arbeit gab es an diesem Wochenende bei drei „Try-Out“-Vorführungen. Mit den hieraus gewonnenen Rückmeldungen arbeitet das Duo noch in dieser Woche weiter und wird dann direkt abgelöst: Ab der kommenden Woche geben Vincent Bruyninckx (Belgien) und Vejde Grind (Schweden) ihrem Stück „Homan“ in Karlsruhe Feinschliff und zeigen am 28. November im Tollhaus eine Vor-Premiere bei freiem Eintritt.
Forum für ungewöhnliche Produktion
Und auch die eingangs erwähnte Produktion „Sanctuary Savage“ wurde vom Collectif Rafale teilweise während einer „Residenz“ im Tollhaus erarbeitet.
Das allerdings ist schon etwas länger her: Die ungewöhnliche Produktion erlebte noch kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie ihre Uraufführung und einige wenige Gastspiele, bevor sie mehr als eineinhalb Jahre lang auf Eis lag.
„Daher war es uns auch wichtig, dieser Gruppe nun wieder ein Forum bieten zu können“, sagt Tollhaus-Chef Belschner.
Artistik nicht nur für die Augen
Ausgangspunkt des besonderen Konzepts von „Sanctuary Savage“ ist die persönliche Betroffenheit durch den blind geborenen Vater eines Ensemblemitglieds.
Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte das Trio eine Aufführung, in der bestaunenswerte Jonglage und Akrobatik ebenso ihren Platz haben wie die Schärfung der akustischen Wahrnehmung, etwa durch Tonabnehmer an den Bällen einer Jonglage-Nummer.
Und die Eingangssequenz mit einem Schattenspiel hinter einer verschleiernden Folie führte im wahrsten Wortsinn vor Augen, wie wenig sich bei schwerer Sichteinschränkung erkennen lässt, während die Mikrofon-Verstärkung von Geräuschen das „Kopfkino“ aktiviert.
Mit dieser Produktion und dem „Try Out“ von Huneck & Salustri, bei dem die Besucher unter anderem mit Augenbinden agieren mussten, widmeten sich gleich beide Programmpunkte der sensorischen Erweiterung des Zirkuserlebnisses. Diese Parallele sei zufällig entstanden, sagt Britta Velhagen, die gemeinsam mit Belschner das Tollhaus leitet. Der Zufall ließe sich freilich auch als Beleg dafür interpretieren, dass man im Tollhaus ein gutes Gespür hat für Künstler, die neue Wege beschreiten.
Service
Nächste Tollhaus-Termine aus dem Bereich Neuer Zirkus: 28. November, 18 Uhr: Vincent Bruyninckx & Vejde Grind / 28. bis 30. Dezember, jeweils 20 Uhr: „Ü53 – Wie lange können Sie das noch machen?“ / 5. bis 7. Januar 2022, jeweils 20 Uhr: Gravity & Other Myths. www.tollhaus.de.