Folge 1: Abschied von der Mietskaserne
Die aktuelle Wohnungsnot in Großstädten gab es schon einmal. In den 1920er Jahren war die Situation noch sehr viel schlimmer als heute. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg fehlten in Deutschland rund 1,5 Millionen Wohnungen. Wohnungsbau wurde zur Staatsaufgabe.
Geburtsstunde des sozialen Wohnungsbaus
In Artikel 155 der „Weimarer Verfassung“ wird die Regierung verpflichtet, „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung“ zu besorgen. „Dies war die Geburtsstunde des sozialen Wohnungsbaus“, urteilt Ursula Muscheler in ihrem Buch über die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Das Wort „gesund“ nennt die Weimarer Verfassung nicht zufällig. Im Zusammenhang mit dem Massenwohnungsbau vor 1914 wurde sehr treffend der Begriff der „Mietskaserne“ geprägt. Dort hausten Arbeiter und kleine Angestellte unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in winzigen, meist überbelegten Wohnungen und in dunklen Hinterhöfen. Im Kaiserreich war man der Ansicht, dass zehn Kubikmeter Luftraum für einen Erwachsenen und fünf für ein Kind ausreichen.
In gläsernen Welten geläutert
Dass sollte sich in der ersten Demokratie auf deutschem Boden ändern, auch wenn längst nicht alle hochgesteckten Ziele erreicht wurden. Bis 1930 wurden mehr als zwei Millionen Wohnungen gebaut. Nach dem Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bestimmten aber nicht allein soziale Aspekte die Zukunft der Architektur. Es gab bereits vor 1914 Ansätze für eine moderne Baukunst, die sich von der als überladen empfundenen Formenpracht des Historismus lösen wollte, doch erst nach dem Untergang des Kaiserreichs lehnten sich die jungen Architekten auf. Bruno Taut wollte die Menschen in gläsernen Welten läutern. Die wichtigste neue Schule ist das Bauhaus, das vor einem Jahrhundert in Weimar eröffnet wurde.
Ein mächtiges Smbol des Aufbruchs
Der Münchner Kunstgeschichte-Professor Norbert Huse sieht den ersten Direktor Walter Gropius von Zukunftssehnsucht beflügelt, als er die Jugend nach Weimar einlud. Joaquín Medina Warmburg, Professor für Architekturgeschichte am Karlruher Institut für Technologie (KIT), beschreibt das Bauhaus anlässlich des Jubiläumsjahrs im Interview mit den BNN als „mächtiges Symbol des kulturellen Aufbruchs“. „Ein Feindbild für Gropius waren Architekten, die nur Ornamentzeichner waren, an der Oberfläche blieben und keinen strukturellen Beitrag zur Gestaltung der Objekte leisteten“, sagt er.
Von Weimar nach Dessau
Nach dem Rechtsruck bei den thüringischen Landtagswahlen 1924 siedelte Gropius mit dem Bauhaus 1925 nach Dessau um, wo das legendäre Schulgebäude und die Meisterhäuser entstanden, in denen die Professoren wohnten. Seit der Mitte der 1920er Jahre wuchs das Interesse von Gropius am Massenwohnungsbau. Im Dessauer Stadtteil Törten entstand ab 1926 eine Siedlung mit 314 Reihenhäusern mit Wohnflächen von 57 bis 75 Quadratmetern. Die kubischen Häuser wurden zu Gruppen von vier bis sechs Einheiten zusammengefasst.
Villen in der Weißenhof-Siedlung
Das Bauhaus-Projekt, das in Baden-Württemberg die größte Beachtung findet, ist nicht die Siedlung Dammerstock, sondern die Weißenhof-Siedlung in Stuttgart, die seit 2016 in Teilen (nämlich die beiden Häuser von Le Corbusier) zum Weltkulturerbe zählt. Die vom Werkbund initiierte Weißenhof-Siedlung entstand unter der Leitung des letzten Bauhausdirektors Ludwig Mies van der Rohe unter Beteiligung der bedeutendsten Architekten des Neuen Bauens, darunter auch Walter Gropius. Der Vergleich mit Dammerstock ist allerdings ein wenig unfair, denn in Stuttgart ging es nicht darum, vielen Menschen dringend benötigten Wohnraum zu verschaffen.
Gebrauchswohnungen in Karlsruhe
Dort entstanden nur 21 meist freistehende Häuser mit insgesamt 63 Wohnungen. Die führenden Architekten der Zeit konzentrierten sich also mehr auf die Villen. Dass die Ausstellung zur Eröffnung der Mustersiedlung in Stuttgart „Die Wohnung“, in Karlsruhe aber „Die Gebrauchswohnung“ hieß, erscheint nur konsequent.
Folge 2: Streit um den richtigen Architektur-Stil
Das Badische Statistische Landesamt berichtet im Jahr 1927 von 32.817 Wohnungssuchenden im Land Baden, in der Hauptstadt Karlsruhe waren es bei rund 140.000 Einwohnern 3452. Betroffen waren hauptsächlich Familien. Der Bedarf an Zwei- bis Vier-Zimmer-Wohnungen war deshalb besonders groß.
Nur wenige Veröffentlichungen über Dammerstock
Während es inzwischen eine Flut von Fachliteratur über das Bauhaus und das „Neue Bauen” gibt, ist die Zahl der Publikationen über die Dammerstock-Siedlung, immerhin eines der bedeutendsten Beispiele des neuen Stils, erstaunlich bescheiden. Eine umfangreiche Monografie hat die Kunsthistorikern Brigitte Franzen 1993 vorgelegt. Dem hervorragenden Buch verdankt diese Serie viele Informationen.
Bauen nach dem „Karlsruher System”
Franzen beschreibt die Wohnungsbausituation in der Weimarer Zeit und verweist dabei beinahe prophetisch auf aktuelle Diskussionen im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts: „Charakteristisch war, dass die Finanzierung der Bauten nicht mehr ausschließlich privaten Investoren überlassen wurde, sondern dass die sozialdemokratische Weimarer Regierung regulierend in den Wohnungsmarkt eingriff.“ Die Stadt Karlsruhe wollte den Wohnungsbau mit dem sogenannten „Karlsruher System“ nach britischem Vorbild vorantreiben. Im Unterschied zu anderen Kommunen gab es in Karlsruhe nur Subventionen, wenn ausreichend Eigenkapital zur Verfügung stand. Das verhinderte eine Überschuldung der Stadt.
Acht Stararchitekten eingeladen
Der Gemeinderat beschloss am 21. Juni 1928, das 14,3 Hektar große Dammerstock-Gelände zu erschließen, der Architektenwettbewerb wurde am 26. Juli ausgelobt. Der war auf Karlsruhe beschränkt, lediglich acht Top-Architekten wurden zusätzlich eingeladen. Im Gegensatz zur Weißenhof-Siedlung in Stuttgart war nicht die gesamte internationale Crème des Neuen Bauens beteiligt, obwohl sich mit Gropius und Richard Döcker auch international renommierte Architekten unter den Geladenen befanden. Ganz große Namen wie Le Corbusier oder Ludwig Mies van der Rohe fehlten im Karlsruher Teilnehmerfeld. Die saßen aber im Preisgericht, dem neben Mies, der Frankfurter Stadtbaurat Ernst May, „Vater” der Sozialwohnungen im „Neuen Frankfurt”, aber auch Paul Schmitthenner gehörte. Der Stuttgarter Professor war einer der bedeutendsten Vertreter der traditionellen Moderne und einer der führenden Architekten der „Stuttgarter Schule”. Er verabscheute das Bauhaus und das Neue Bauen. Gegen die Weißenhof-Siedlung hatte er heftig polemisiert und initiierte als Gegenentwurf die Kochenhof-Siedlung. Wie die Avantgardisten vom Bauhaus hatten sich auch die Architekten der traditionellen Moderne von der überschwänglichen Ornamentik der Vorkriegszeit verabschiedet, bevorzugten aber Satteldächer statt Flachdächern und klassische Lochfassaden statt Fensterbändern oder Glasfassaden. Man darf also davon ausgehen, dass es in der Sitzung des Preisgerichts in Karlsruhe hoch hergegangen ist. 43 Entwürfe wurden bis zum 13. Oktober 1928 eingereicht.
Fetisch-Objekte des modernen Bauens
Joaquin Medina-Warmburg, Professor für Architekturgeschichte am KIT, hat die Konflikte zwischen Avantgardisten und Traditionalisten anlässlich des Jubiläumsjahrs im Interview mit den BNN treffend beschrieben: „Bei der Betrachtung der unter der Leitung des letzten Bauhausdirektors Ludwig Mies van der Rohe initiierten Weißenhof-Siedlung und der von Paul Schmitthenner ebenfalls in Stuttgart als Antwort darauf geplanten Kochenhof-Siedlung in traditionelleren Formen stelle ich fest, dass die Unterschiede im Hinblick auf die Wohnformen nicht so groß sind, wie die Protagonisten das damals propagiert haben. Es gibt erstaunliche Übereinstimmungen bis hin zu den Sonnenterrassen als einem Fetisch-Objekt des modernen Bauens. Jedenfalls haben beide Siedlungen ihre Wurzeln in der Lebensreformbewegung.”