
Irgendwann wird Jenny sich vielleicht einmal fragen, was ihre Mama wohl zum Abi-Ball getragen hat. War’s ein langes Kleid oder ein kurzes? Überhaupt – das Abi. Was war eigentlich Mamas Lieblingsfach? Mathe – wie bei ihr? Oder Deutsch?
Aber Jenny ist erst sieben. Sie denkt noch lange nicht ans Abi. Nur eines weiß sie sicher: Wenn es einmal soweit sein sollte, wird ihre Mama nicht dabei sein. Jennys Mutter liegt im Sterben.
Das Familienhörbuch konserviert mehr als die Stimme
Damit unheilbare erkrankte Eltern ihren Kindern mehr als Fotos und Briefe hinterlassen können, hatte die Hörfunkjournalistin Judith Grümmer im Jahr 2017 eine Idee: Mit ihrer gemeinnützigen Organisation „Familienhörbuch GmbH“ bietet sie professionelle Unterstützung bei der Erstellung einer Biografie in Form eines Hörbuches. Das wird professionell produziert, ist technisch einwandfrei und – dank einer durchdachten Dramaturgie – spannend.
Inzwischen haben Grümmer und ihr wachsendes Team mit sogenannten Audio-Biografen viel Erfahrung gesammelt. Sie wissen, worauf es ankommt. Ihre Fragen und Gedanken unterstützen Palliativpatienten beim Erinnern. Gemeinsam sammeln und ordnen sie die wichtigsten Lebensmomente.
Sobald die Aufnahme gemacht ist, geht sie in ein Tonstudio. Dort schneidet und veredelt ein Techniker die eingesprochenen Biografien. Auf Wunsch auch mit Musik oder Gedichten. So entsteht ein individuelles Audio-Vermächtnis.
Medizinische Studie untersucht die Effekte
„Die Idee hat mich sehr berührt“, sagt Anja Greinacher. Die psychologische Psychotherapeutin hat im Rahmen ihrer Arbeit beim Institut für Medizinische Psychologie an der Universitätsklinik Heidelberg von der Existenz des ausschließlich durch Spenden finanzierten Familienhörbuch-Projekts erfahren.
Im Rahmen einer Studie untersucht sie derzeit die Effekte auf die Psyche und den möglichen Nutzen des Ton-Testaments. „Wir möchten gern herausfinden, wie sich Menschen, die den Tod vor Augen haben, fühlen, wenn sie sich für ihre Kinder noch einmal an ihr Leben erinnern“, erklärt Anja Greinacher.
Das Erinnern ist anstrengend und kann sehr schmerzlich sein
Dass die Erinnerung den Krebs-Patienten auch körperlich eine Menge Kraft und Anstrengung abverlangt, ist klar. Aber bringt das Projekt vielleicht auch positive Effekte? So große, dass die Aufnahme eines Familienhörbuches eines Tages vielleicht einmal für alle Palliativpatienten mit noch minderjährigen Kindern angeboten werden kann? Immerhin entstehen für ein Audio-Buch Kosten von rund 6.000 Euro.
Die Studie, die vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg (NCT) und der Dietmar-Hopp-Stiftung finanziert wird, soll systematische Erkenntnisse und wissenschaftlich fundierte Daten liefern.
Es werden weitere Studienteilnehmer benötigt
25 Patientinnen und Patienten ohne Aussicht auf Heilung beteiligen sich bereits an der Studie. Sie haben schon Familienhörbücher erstellen lassen oder sind gerade dabei. Für 25 weitere Interessenten ist noch Platz. Anja Greininger hat die Zurückhaltung zunächst überrascht. „Aber für viele Menschen ist es eben nicht selbstverständlich, über ihr Leben und ihre Krankheit zu sprechen“, sagt sie.
Hinzu kommt, dass die Behandlungen im Zusammenhang mit der Krankheit viel Raum im Leben der Patienten einnehmen. Manche fühlten sich auch einfach zu schwach für die Interviews durch den Audio-Biografen. Eine solche Aufnahme ist harte Arbeit und beansprucht in der Regel ganze drei Tage. „Das kann schon sehr herausfordernd sein“, hat Anja Greinacher festgestellt.
Gefühle der Dankbarkeit und der Erleichterung
Die ersten Befragungen der Heidelberger Studienteilnehmer zeigten, dass die Erstellung eines Familienhörbuchs meistens ein schönes Erlebnis war. „Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben ein anstrengender Prozess ist, waren sie doch froh, es gemacht zu haben.“ Viele hätten nach Abschluss Gefühle wie Dankbarkeit und Erleichterung beschrieben.
Anja Greinacher konnte noch einen weiteren positiven Aspekt der Hörbücher beobachten. „Ganz viele Menschen fokussieren sich bei der Rückbesinnung eher auf die positiven Seiten und die guten Erinnerungen.“ In der Summe ergebe sich dann die Erkenntnis, ein gutes Leben gehabt zu haben.
Die Studie
Wer Vater oder Mutter eines minderjährigen Kindes ist und mit einer lebensverkürzenden Diagnose in Behandlung ist, kann sich für die Teilnahme an der wissenschaftlichen Studie bewerben. Die Kontaktadresse beim NCT lautet: hoerbuch.palliativmedizin@med.uni-heidelberg.de