Was passiert beim Anti-Gewalt-Training eigentlich genau?
„Ich war froh, festzustellen, dass hier gar keine Psychopathen sind“, sagt Erik (Name v. d. Redaktion geändert) und erntet dafür heiteres Gelächter der anderen fünf Männer im Kreis. Gewalttäter, erzählt Erik weiter, stelle man sich doch ganz anders vor. Aber Gewalttäter, Menschen, die anderen Gewalt angetan haben, das sind sie alle, die an diesem Donnerstagabend zusammensitzen.
In Anwesenheit von Anti-Gewalt-Trainer Jonas Sprißler und Sozialpädagogin Anke Bingler treffen sie sich zum achten Mal zum Anti-Gewalt-Training. Es ist Halbzeit. Nach weiteren acht Treffen ist der Kurs vorbei. Im besten Fall werden die sechs Teilnehmer dann ihren Alltag ohne Gewalt bestreiten können. Der Weg dahin sieht allerdings anders aus, als man es etwa aus Film und Fernsehen kennt.
Es gibt keinen „heißen Stuhl“. Niemand sitzt in der Mitte und wird von den anderen unaufhörlich mit Vorwürfen bombardiert. Niemand schlägt gegen Boxsäcke. Aggressionsabbau ist hier nicht das Thema. „Es geht hier nicht darum, Menschen an den Rand ihres Möglichen zu bringen“, erklärt Sprißler.
Dieses Modell des Draufhauens habe eher ausgedient. Denn: „Dieses Modell kennen die Täter ja. Da verändert sich nichts.“
Nicht jeder kommt freiwillig
Was es stattdessen im Anti-Gewalt-Training gibt: Gespräche, Reflexion und Wertschätzung. Außerdem: Kuchen, den die Teilnehmer immer abwechselnd mitbringen. „Es geht um die Frage: Wie kann ich an mir arbeiten?“, erklärt Sprißler. Das passiert in der Praxis durch Modelle, durch Visuelles, durch Rollenspiele, in denen Situationen darstellt werden. „Um ins Fühlen zu kommen. Es geht um Gefühle, es geht um Wertschätzung“, so der Berater. „Wir sagen nicht: Ich akzeptiere dich nicht als Mensch! Sondern ich akzeptiere nicht das, was du getan hast! Die Gewalt, die du angewandt hast, ist absolut nicht zu akzeptieren. Aber dich als Mensch akzeptiere ich so wie du bist. Das sind die Ansätze.“
Trotzdem kommen nicht alle Männer gerne. Manche sind nicht einmal freiwillig im Training, sondern, weil es eine Auflage ist, an die sie sich halten müssen. „Ich wollte es am Anfang nicht machen“, erklärt Georg (Name v. d. Redaktion geändert). Auch wenn er inzwischen froh sei, dass er sich angemeldet hat. „Man will manchmal eben nicht die Verantwortung übernehmen. Man sagt sich manchmal selber, ich bin doch gar nicht so schlimm“, erklärt er.
Auch Erik (Name v. d. Redaktion geändert) wollte erst nicht kommen. „Ich hatte mich erst fehl am Platz gesehen“, sagt er. „Ich war auf jeden Fall der Meinung, dass ich nicht zeigen muss, dass ich kein gewalttätiger Mensch bin. Ich hatte den Eindruck, dass ich mich unter Kontrolle hab. Aber man merkt dann, dass man doch Gewaltpotenzial in sich trägt.“ Durch die Gespräche mit den anderen Männern stelle man aber auch fest, dass man mit diesen Themen nicht alleine sei.
Jetzt, in der letzten Hälfte des Kurses, geht es an die Biografie-Arbeit, an die Lebensläufe der Männer. Das geht erst, wenn sich die Gruppe gut kennt und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut ist. Auf dem Flipchart hat einer der Teilnehmer bereits sein Leben als Fieberkurve aufgemalt. Die Linie bezeichnet viele Hochs, aber auch viele Tiefs. Zu jedem Hoch- und Tiefpunkt gibt es Erlebnisse, Geschichten, Schicksalsschläge, von denen sich die Männer gegenseitig erzählen.
Immer schwingt die Frage mit: Wie nehme ich die Dinge wahr? Und: Wie interpretiere ich das, was passiert? „Aus Interpretationen kann zerstörerische Wut entstehen“, erklärt Sprißler. „Das geht meistens zurück auf Gefühle wie Hilflosigkeit, Ohnmacht, Traurigkeit oder Angst. Das wird zwar als Wut empfunden, aber dahinter steht eigentlich etwas anderes.“ Dieses Andere versuchen die Teilnehmer im Training herauszufinden.
Häusliche Gewalt sieht immer anders aus
In der vergangenen Woche haben sie den Gewaltkreislauf nach Lempert kennengelernt. Sprißler und Bingler bitten die Männer, die einzelnen Stationen des Kreises mit beschrifteten Karten auf dem Boden noch einmal aus dem Gedächtnis nachzustellen. Oben auf der Zwölf-Uhr-Position liegt schnell das Kärtchen mit der Aufschrift „Gewalttat/Wutausbruch“.
Bei den anderen Stationen gibt es Unsicherheiten. Die Männer kennen die Theorie, aber jeder hat auch eigene Erfahrungen. „Kommt nicht erst die Reue?“ fragt einer. „Ich denke, dass die Entschuldigung vor der Reue kommt“, sagt ein anderer. „Aber ich fühle mich doch erst schlecht und entschuldige mich dann“, wirft ein weiterer Teilnehmer ein, während ein vierter erklärt: „Ich mache beides gleichzeitig.“
Alle sind sich aber einig: Die Phase der Reue ist der Moment, an dem man aus dem Gewaltkreislauf aussteigen kann. Verpasst man ihn, kommt die nächste Phase: Verdrängung. „Dann schiebt man die Verantwortung ab“, sagt Till (Name v. d Redaktion geändert). „Und dann kommt wieder der Alltagstrott“, fügt Erik hinzu, „Die Konflikte steigen wieder an.“
Die Männer können sich alle an diese Phasen in ihrem eigenen Leben erinnern. Jeder erlebt sie anders. „Ich versuche die Konflikte zu vermeiden“, gesteht ein Teilnehmer. „Dann gehe ich lieber in eine Bar.“ Und Sprißler führt aus: „Man weiß ja, wenn es eskaliert, geht es schief. Deswegen werden Konflikte vermieden.“
Die Vermeidung des Konflikts funktioniert irgendwann nicht mehr, das wissen die Teilnehmer aus Erfahrung. Mit der steigenden Anspannung entsteht ein Gefühl der Hilflosigkeit. „Dann kommt der Tag X. Ihr geht in die Aktion. Die Situation eskaliert“, sagt Sprißler. Die Uhr steht wieder auf zwölf: Gewalt.
Wie schnell die Phasen des Gewaltkreislaufs durchschritten werden, ist bei den Teilnehmern unterschiedlich. „Manchmal sehe ich gleich, wenn ich eine Grenze überschritten hab“, berichtet einer der Männer. „Manchmal dauert das Aufwachen vielleicht ein paar Sekunden. Und nach fünf bis zehn Minuten ist das Ganze für mich wieder gegessen.“ „Bei mir hat es sich erst angestaut. Ich war dauerhaft im Ohnmachtsgefühl“, erklärt wiederum Till.
Warteliste für den nächsten Kurs schon gut gefüllt
Obwohl der Kurs erst zur Hälfte vorbei ist, ziehen die Teilnehmer schon ein positives Zwischenfazit. „Man schätzt sich selber wert“, sagt Georg. „Das vergisst man oft. Man denkt immer, man ist nicht normal. Wenn man das täglich hört, fragt man sich irgendwann: Ist das so? Aber hier merken wir: Wir sind normal.“
„Für mich war es ein Aufwachen“, sagt Georg abschließend. „Wenn ich zurückdenke, war nie Gewalt in meinem Leben. Trotzdem ist das in meiner Ehe passiert. Der Kreislauf hat mit geholfen, dass es mir bewusst wird. Man kennt das Gefühl jetzt und hat Zeit, die richtige Entscheidung zu treffen.“ Bei ihm klappe das ganz gut.
Auf einem Punkt beharren die Berater allerdings: „Wir sind kein Männerschutzverein“, stellt Sprißler klar. „Es geht nicht darum, Männer in Schutz zu nehmen. Es geht um die Konfrontation mit der Tat und um Verantwortungsübernahme. Das fordern wir von den Männern.“
Nach dem Ende des Kurses gibt es immer noch ein Treffen ein paar Monate später. Die Möglichkeit, mit den Beratern in Kontakt zu bleiben, gibt es aber auch nach dem Anti-Gewalt-Training jederzeit. Manche Männer gehen wieder in die Einzelberatung, andere machen nochmal ein Training. Wieder andere brauchen beides nicht. „Es ist nicht so, dass man hier rausgeht und alle Probleme sind gelöst“, erklärt Bingler allerdings.
Auch für den nächsten Kurs gibt es bereits Interessenten. „Etwa fünf Männer sind schon auf der Warteliste. Die ist im Vorfeld immer sehr lang“, sagt Sprißler. „Aber am Schluss zeigt sich, wer wirklich hier sitzt.“
Wie kann ich mich beim Anti-Gewalt-Training anmelden?
Alle Informationen zum Anti-Gewalt-Training für Männer gibt es hier.
Ansprechpartner:
Jonas Sprißler
Telefon: 0721 680246-80
Mail: jonas.sprissler@vfj-ka.de
Nicola Marra
Telefon: 0721 680246-83
Mail: nicola.marra@vfj-ka.de