Die Welt endet nicht hinterm Deich. Ein blau-marmorierter Himmel wölbt sich über dem flachen Land; Feenschleier filtern das Sonnenlicht. Hinter dem Gürtel grünbrauner Quellerpflanzen regiert die Farbe grau. Wie mit dem Pinsel sind die Priele durch den Schlick gezogen, der im Licht der tief stehenden Sonne ölig-silbern schimmert. Nichts als Pfützen und Matsch, durchbrochen von ein paar Büscheln Seegräsern, die dem Zwitterwesen aus Land und Meer Halt zu geben scheinen.
Eine amphibische Landschaft
Weit hinten, am Horizont zeichnen sich die blassen Konturen der Inseln und Halligen ab. Das Meer ist mal da, mal nicht – das macht den Charakter dieser amphibischen Landschaft aus, die sich vom niederländischen Den Helder über die deutsche Nordeseeküste bis in die dänische Ho Bugt erstreckt.
Ist das Wasser weg, blickt der neugierige Wattwanderer auf den Meeresboden, auf schaumgeränderte Sandbänke, auf die blubbernden Ergüsse der Herzmuscheln und auf Spaghetti-Haufen, die von der Anwesenheit des Wappentiers der stillen Landschaft künden, des Wattwurms.
Oberflächlich betrachtet scheint der Küstenstreifen nur toter Schlick zu sein, doch der Eindruck täuscht: Im Wattenmeer ist mehr los als im tropischen Regenwald. Deshalb erklärte die Unesco das 11 500 Quadratkilometer große Gebiet vor zehn Jahren zum Weltnaturerbe.
Der Wert des Wattenmeeres
Das Schutzgebiet, immerhin halb so groß wie das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, ist einzigartig auf der Welt. Nirgendwo sonst auf dem Globus erstreckt sich ein solch dynamisches Ökosystem, das sich ständig verändert. Das Wattenmeer ist ein Spielball der Gezeiten, ein Kind von Ebbe und Flut, geprägt von dem meist aus Westen blasenden Wind und den Sturmfluten der Winterhalbjahre.
Strömung trägt die Inseln weiter
Neue Sandbänke tauchen unvermittelt auf, alte werden abgetragen, die Strömung lässt die friesischen Inseln nach Osten treiben. Was Wasser und Wind auf der einen Seite wegnagen, lagern sie woanders wieder an – vielleicht. So nahm die Insel Wangerooge zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert im Westen etwa zwei Kilometer ab, im Osten etwa vier Kilometer zu. Der 1856 im Osten errichtete Leuchtturm ist inzwischen in der Inselmitte gelandet.
Und das Vogeleiland Trischen , das vor 400 Jahren im Dithmarscher Wattenmeer geboren wurde und für Menschen tabu ist, wandert Jahr für Jahr 30 Meter Richtung Festland. Die Hütte des Vogelwarts des Nabu, Herrscher über 180 Hektar Sand und Salzwiese, steht auf Stelzen in der Brandung.
Eine der ökologisch wertvollsten Regionen der Erde
Werden und Vergehen ist etwas ganz Normales in dieser Landschaft, die wie eine nasse Wüste erscheint, ein vermeintlich ödes, lebloses Nichts. Doch der Boden des Wattenmeeres, das eine der ökologisch wertvollsten Regionen der Erde ist, steckt voller Leben – voll mit Algen und Einzellern, die am Beginn der Nahrungskette stehen. Immerhin 10 000 verschiedene Spezies leben hier, unscheinbare Spezialisten, ohne die das Wattenmeer nicht wäre, was es ist.
Von Muscheln und Würmern
In einem einzigen Quadratmeter Schlick tummeln sich Abertausende Individuen: winzige, gut getarnte Schlickkrebse, die bei warmer Luft und sanftem Wind das magische Knistern verursachen; Miesmuscheln, die Kläranlagen der Nordsee, die bis zu einem Liter Wasser pro Stunde filtrieren können, und natürlich der Wattwurm, der alles Nahrhafte aus dem Sand auslutscht und die Reste als nudelförmige Häufchen ausspuckt. Schnell muss er dabei sein, denn auf das herausgestreckte Wurmende sind hungrige Vögel und Fische gleichermaßen scharf. Würmer, Muscheln und Schnecken bringen es auf über zehn Tonnen tierischer Biomasse je Hektar: kein Urwald, kein Korallenriff bietet mehr.
Wichtiges Revier für Zugvögel
Diesem reich gedeckten Tisch verdankt der Küstenstreifen seine Stellung als ornithologische Premiumadresse . Fast alle europäischen Brandgänse, rund 200 000 Tiere, mausern im August in entlegenen Ecken. Mehrere Hunderttausend Alpenstrandläufer, Knutts und andere Watvögel rasten im Frühjahr und Herbst auf den ausgedehnten Salzwiesen. Auf Vogelinseln und Halligen brüten große Seevogelkolonien sowie die letzten Paare der äußerst seltenen Lachseeschwalbe. Zehn bis zwölf Millionen Zugvögel werden hier satt und fressen sich soviel Reserven an, dass sie bis nach Südafrika fliegen können.
Kampf um den Schutz des Wattenmeeres
Lange wurde diese Landschaft von bizarrer Schönheit im Bewusstsein der Menschen bestenfalls als Grauzone zwischen Nordsee und Festland wahrgenommen. Der Verein „Schutzstation Wattenmeer“ erkennt schon zu Beginn der 1960er Jahre die Schutzbedürftigkeit des Watts, das neben den Hochalpen die letzte weitgehend ursprünglich erhaltene Naturlandschaft Mitteleuropas ist. Der Naturschutzbeauftragte der Bundesregierung, Bernhard Grzimek ist begeistert, die Einheimischen nicht.
Widerstand in der Bevölkerung
Vor allem die Fischer sorgen sich um ihre wirtschaftliche Existenz, machen gemeinsam mit Landwirtschaft und Küstenschutz mobil gegen die Pläne eines Nationalparks. Einen ersten Gesetzesentwurf zieht die schleswig-holsteinische Landesregierung 1974 wegen heftiger Proteste zurück; ein zweiter Anlauf zu Beginn der 1980er Jahre ist erfolgreicher: Im Juli 1985 verabschiedet die Regierung in Kiel das entsprechende Gesetz und weist den größten Nationalpark zwischen dem Nordkap und Sizilien mit 441 500 Hektar aus.
Ein Jahr später wird das niedersächsische Wattenmeer ebenfalls zum Nationalpark erklärt. Hamburg folgt 1990. Die Adelung zum Welterbe spielt sich in jenem Jahr ab, in dem das Dresdner Elbtal wegen der Waldschlößchenbrücke von der Unesco-Liste gestrichen wurde.
Statt der "Big Five" kommen die "Small Five"
Das Welterbe Wattenmeer steht damit auf einer Stufe mit so weltberühmten Winkeln wie Galapagos auf dem Äquator, dem Grand Canyon in Arizona oder der Serengeti in Tansania. Dass die Welterbe-Schwester im Süden Afrikas Safari-Attraktionen wie Löwen, Elefanten, Nashörner, Büffel und Leoparden bieten kann, hat die Tourismusbeauftragten im Norden der Republik auf eine Idee gebracht – schließlich gilt es, die unstete Landschaft naturgeneigten Urlaubern zu erschließen.
Der Wattwurm ist der Star
Statt mit den „Großen Fünf“ kokettiert das Wattenmeer mit den „Small Five“, die da heißen: Wattwurm, Herzmuschel, Nordseegarnele, Wattschnecke und Strandkrabbe. Der Star ist natürlich der unscheinbare Wattwurm, der für gewöhnlich in 30 Zentimeter Tiefe im Schlamm haust. Arenicola marina schleust nicht nur 25 Kilo Sand pro Jahr durch den schmächtigen Körper. Praktischerweise kann der Baumeister eines ganzen Lebensraums verlustig gegangene Schwanzglieder ersetzen, und das gleich 25 Mal in seinem vier Jahre währenden Leben. Da dürfte selbst mancher Serengeti-Löwe neidisch werden.
Der Welterbetitel war das Beste, was dem Wattenmeer passieren konnte. Das hat bei den Anwohnern die Identifikation mit dem Nationalpark gefördert
bestätigt Rüdiger Strempel, Exekutivsekretär des Gemeinsamen Wattenmeersekretariats in Wilhelmshaven. Dort werden Aktionen gesteuert und länderübergreifende Zählungen von Kegelrobben und Seehunden koordiniert. Die gemeinsamen Bemühungen, Deutschlands, Dänemarks und der Niederlande um diesen einzigartigen Lebensraum haben sich ausgezahlt. Die Bestände bedrohter Arten wie Seehund oder Löffler haben sich erholt. Andere Arten, die als verschwunden galten, kehren nach und nach zurück.
Zu den Rückkehrern zählt beispielsweise die Kegelrobbe , die bis zu 300 Kilo schwer werden kann und Deutschlands größtes Raubtier ist. Dem „hakennasigen Schwein des Meeres“, so die Übersetzung seines wissenschaftlichen Namens, war sein unersättlicher Appetit auf Fische beinahe zum Verhängnis geworden.
Klimawandel gefährdet das Wattenmeer
Bei aller Freude über das Erreichte: Mensch und Klima setzen dem Welterbe gleichermaßen zu. Meere sind grenzenlos, und die Umweltprobleme der Nordsee machen auch vor den Nationalparks nicht halt. Mehr als 20 000 Tonnen Müll landen laut WWF jedes Jahr in der Nordsee, 75 Prozent davon sind aus Plastik.
Risiken durch Ölförderung
Hinzu kommen die Risiken durch die Ölförderung: Knapp 450 Öl- und Erdgasplattformen gibt es in der Nordsee. „ Mittelplate “, mit etwa 100 Millionen Tonnen das einzige nennenswerte Ölfeld Deutschlands, liegt mitten im schleswig-holsteinischen Nationalpark, in Sichtweite der Vogelinsel Trischen. Eine Katastrophe wie der Untergang der Ölplattform „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko wäre „das Horrorszenario für die Tier- und Pflanzenwelt des Wattenmeeres“, so Kim Cornelius Detloff vom Nabu.
Das Weltnaturerbe droht zu ertrinken
So herrlich die Sonnenuntergänge auf Norderney sind, so meditativ die schmatzenden Geräusche beim Wattspaziergang wirken: Das unvergleichliche Naturerbe ist auch ein Spiegel für den Kampf des Menschen gegen das Meer. Seit Hunderten Jahren schützen sich Anwohner mit Deichen und Warften vor den Fluten. Symbol dafür ist in den Niederlanden der 32 Kilometer lange Abschlussdeich, der seit knapp 90 Jahren die Nordsee von ihrem südlichsten Teil, der Zuiderzee, abschließt.
Doch der Meeresspiegel steigt und steigt, wegen des menschengemachten Klimawandels. Bis Ende dieses Jahrhunderts – so die Befürchtungen der Wissenschaft – könnten drei Viertel des Wattenmeeres unter Wasser stehen. Die Naturlandschaft mit ihrem unglaublichen Artenreichtum droht zu ertrinken.