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Ein bewegtes Leben

Wie der Niederländer Johann van der Velde vom Anwalt zum Obdachlosen in Karlsruhe wurde

Der Obdachlose Johann van der Velde war einst Rechtsanwalt in den Niederlanden, dann warf ihn ein entsetzliches Unglück aus der Bahn. Seither durchwandert er ganz Europa; Karlsruhe ist derzeit sein Domizil. Jetzt, im Rentenalter, gelingt es dem Mann, auch einem Leben auf der Straße gute Seiten abzugewinnen.

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Johann van der Velde Portraet Peter Sandbiller Foto: None

Manchmal dreht das Leben eigenartige Kurven. Da glaubt man sich in sozialer Sicherheit, und urplötzlich ist alles anders. Der Niederländer Johann van der Velde hat Höhen und Tiefen erlebt wie kaum ein anderer. Er lebt seit Jahren auf der Straße. "Als Schnorrer", wie er sagt.

Das Schicksal kann Menschen aus der Kurve tragen. Im konkreten wie im übertragenen Sinn. Sagt Johann van der Velde. Der Mann, dessen Name wie der eines Radrennfahrers klingt, sitzt am Boden vor der Karlsruher Stadtinformation nahe dem Marktplatz, dreht sich eine Zigarette und blinzelt hinüber zur Pyramide.

Der Niederländer mit dem hellen Anorak und dem grauen Vollbart hat vor sich eine Wollmütze, darin vier Euro Münzgeld. Manche Passanten nicken ihm zu, „Hallo Johann“, rufen andere. „Wie geht’s“, antwortet der. Seine Stimme ist laut und rau.

Aus der Kurve geflogen

Johann van der Velde ist aus der Kurve geflogen. Im Sommer 1991. Es trifft eine Familie wie aus dem Bilderbuch: Ihn, Ehefrau Stella und die gemeinsamen drei kleinen Kinder. Johann van der Velde ist damals Mitte Dreißig, Anwalt mit dem Schwerpunkt Strafrecht, seine Frau ist ebenfalls Juristin.

Beim Studium haben sie sich kennengelernt. Auf ihren Campingurlaub in Österreich haben sie sich schon länger gefreut. Ganz klischeehaft sind die van der Veldes unterwegs: Per Auto und Wohnanhänger.

Dann ist da dieser Morgen auf dem Campingplatz. Mutter van der Velde und die Kinder verabschieden sich von Johann, steigen ins Auto und starten. Sie wollen einkaufen gehen. Lebensmittel. Wenig später ist ihr Leben zu Ende.

Was passiert ist, erfährt Johann van der Velde, als am Abend Polizeibeamte und ein Geistlicher an die Wohnwagentür klopfen. Den Wagen mit dem holländischen Kennzeichen hat es ohne Einfluss eines anderen Verkehrsteilnehmers auf der bergigen Strecke aus der Kurve getragen. Das Auto stürzt ins Tal. Beim Aufprall sind alle tot.

Plötzliche Leere, weil er seine eigenen Kinder beerdigen musste

Da ist plötzlich diese Leere. Das Leben als angestellter Rechtsanwalt, die großen Strafprozesse, die Gedanken über die Zukunft der Kinder – alles Bunte weicht mit einem Mal einem undurchdringlichen Grau. Oder, wie Johann van der Velde es mit der Distanz der Jahre formuliert: „Du hast tief in dir die Vorstellung, dass deine Kinder dich irgendwann beerdigen. Und dann ist es umgekehrt.“

„Ich konnte nicht mehr in unserer Wohnung leben, ich war berufsunfähig, ich wollte dieses Leben nicht mehr.“

Mit einem Mal ist der aufstrebende Rechtsanwalt keiner mehr. „Ich konnte nicht mehr in unserer Wohnung leben, ich war berufsunfähig, ich wollte dieses Leben nicht mehr.“ Er weiß nicht, ob er die Entscheidung getroffen hat, oder ob die Entscheidung ihn getroffen hat. Jedenfalls hat Johann van der Velde irgendwann alles losgelassen.

Er wurde obdachlos – mit allem, was das heißt. Es gab Zeiten, da trank er zehn Liter Bier am Tag, schlief in verwanzten Männerwohnheimen, wurde Opfer von Übergriffen. Einmal, in Münster, versuchten sie ihn anzuzünden. Mit einem Bunsenbrenner. Er krempelt den linken Ärmel hoch und zeigt die geschundene Haut.

Auf der Straße hat er viel gelernt

Er hat auf den Straßen aber auch viel gelernt. Dass man in den Pyrenäen niemals allein im Freien schlafen sollte – wegen der Wölfe. Dass in Gibraltar die Affen gefährlich werden können. Dass man in Finnland Obacht geben muss, damit man nicht unbeabsichtigt über die grüne Grenze nach Russland gerät und ohne Visum erwischt wird. Und dass es trotz allem auch glückliche Momente geben kann in so einem gebrochenen Leben.

Jetzt ist Johann van der Velde in Karlsruhe. Von Montag bis Freitag ist er zwischen 10 und 14 Uhr an seinem „Arbeitsplatz“, wie er sagt, im Trockenen beim Marktplatz. „Platte machen“ nennen das die Obdachlosen.

Das Leben wird vielleicht nicht geruhsamer, wohl aber freundlicher. Auch weil er eine Freundin hat und dadurch ein für seine Verhältnisse strukturiertes Leben. Fast ein bisschen bürgerlich, verfolgt er abends um Acht die Tagesschau. Er mag die Stadt. Manchmal fungiert van der Velde als Dolmetscher, wenn es um Niederländisch geht. Und manchmal kommt selbst einer wie er ins Staunen.

Eine Frau legt mehrere Hundert Euro in seine Bettel-Mütze

Da gibt es diese Frau, sie ist knapp 50. Sie läuft an dem sitzenden Obdachlosen vorbei und legt rasch ein Papierbündel in die Mütze. Als van der Velde den Gummiring löst, fällt zuerst ein Jesusbildchen in seine Hände. Dahinter sind Banknoten. 600 Euro.

Viermal ist ihm das schon passiert. Und beim fünften Mal waren es 1.500 Euro. „Ich habe versucht, die Frau anzusprechen“, sagt er. Aber die eilte sofort davon und tat so, als höre sie seine Stimme nicht. „Dabei würde mich schon interessieren, warum das jemand macht.“

Überhaupt ist das sein Thema. Warum ist das Leben wie es ist. Seine Zeit als Strafverteidiger ist weit entfernt für Johann van der Velde. Die Vergangenheit aber kann man nicht abschütteln. Im Fall des Holländers ist es, die Art, als Jurist zu denken.

Unter den Obdachlosen hat ihm das zum Ansprechpartner bei allen Arten von Schwierigkeiten mit der Obrigkeit gemacht. Auch mancher Polizeibeamte weiß, dass der Holländer mehr über Formalitäten weiß als andere Obdachlose. Einer wie er genießt Vertrauen. Das macht ihn stolz. Was einst wirtschaftlicher Wohlstand und beruflicher Erfolg war, ist heute das Glück im ganz Kleinen.

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