Was ist schlimmer: Einen (Lego-) Turm einzureißen, den ein anderer erbaut hat, oder blutige Revanche in Selbstjustiz zu üben? Was ist schlimmer: Papas Lieblingspullover mit der Bastelschere zu verschönern oder den Bruder zu der Tat anzustiften? Ich bin keine Rechtsgelehrte, und daher stellen mich solche Fragen vor große Herausforderungen in meinem Alltag als zweifache Mama.
Wer ist der (größere) Übeltäter?
Kinder wollen diese Fragen geklärt wissen, und sie wollen, dass der (größere) Übeltäter zur Verantwortung gezogen wird. Doch wer ist der größere Übeltäter? Selten sind ja alle Fakten bekannt und die Zeugenaussagen sind meist auch alles andere als aussagekräftig. Und nun soll man unter Zeitdruck salomonisch urteilen, während zwei aus Kratzwunden blutende Kinder aus Leibeskräften brüllen.
Es gilt ja nicht nur, die Tat an sich zu betrachten, es stellt sich auch die Frage nach den Umständen. Gab es im Vorfeld Provokationen, ging dem Turmbau womöglich schon Baustein-Diebstahl voraus? Oder wurde der Turm gar auf den Ruinen eines älteren Bauwerks errichtet? Gibt es mildernde Umstände? Und was kommt da nicht alles in Frage: Schlecht geschlafen, Entwicklungs- und/ oder Wachstumsschub, Marmelade mit Stücken am Frühstückstisch, jemand hat rosa Legosteine in das coole Baustellenset gemischt, und so weiter und so fort.
Friedensgesang und Gummibärchenverzicht
Hätte Justitia nicht schon eine Binde vor den Augen, bei uns zu Hause würde sie freiwillig auf ihr Augenlicht verzichten. Gerecht geht es bei uns nicht zu, dafür ist die Lage selbst bei einfachen Streitigkeiten meist zu unübersichtlich. Ich habe mir aber als faktische Laienrichterin in unserer Familie eine dreistufige Strategie zurechtgelegt, die ich hiermit allen Müttern und Vätern wärmstens empfehlen kann. Sogar einen Einsatz am Zivilgericht kann ich mir – ohne mich zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen – bei den dort häufig verhandelten Bagatellfällen durchaus vorstellen. Erstens: Konflikt soweit möglich ignorieren. Ist das nicht möglich, folgt Stufe zwei: Versuch einer gütlichen Einigung, mittels Intonierung des Friedensgesangs „Piep piep piep, wir ham uns wieder lieb“. Scheitert auch dies, fälle ich ein Urteil. Beide Kinder tragen Mitschuld, die Gerichtskosten werden durch Gummibärchenverzicht für den aktuellen Tag beglichen.
Und jetzt kommt der Clou: Wer von beiden nach diesem Urteil lauter brüllt, war (fast) unschuldig.