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30 Hausbesuche am Tag

„Ich bin Seelsorgerin, Freundin und Pflegerin zugleich“: Unterwegs mit Schwester Selma in Bretten

Was pflegebedürftige Menschen möchten? Vor allem so lange wie möglich zu Hause bleiben. Das wuppen dann Angehörige. Und ambulante Pflegedienste. Schwester Selma aus Bretten macht täglich rund 30 Hausbesuche. Wir haben sie begleitet.

Schwester Selma (links), Mitarbeiterin beim mobilen Pflegedienst Schulz, wäscht einer Patientin in deren Badezimmer die Haare.
Schwester Selma (links), Mitarbeiterin beim mobilen Pflegedienst Schulz, wäscht einer Patientin in deren Badezimmer die Haare. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa

Beim ambulanten Pflegedienst von Armin Schulz geht es hoch her, 365 Tage im Jahr. Früh am Vormittag sind im Büro in Bretten seine Mitarbeiter am Start, organisieren Schichten und Einsatzpläne, telefonieren, erledigen Bürokram. Längst unterwegs sind da schon viele seiner Pflegekräfte, Pflegehelfer und Hauswirtschafterinnen, unterwegs zu ihren „Kunden“: Pflegebedürftigen Menschen, die zu Hause versorgt werden. Um 6 Uhr morgens startet die erste Schicht. Mit Schwester Selma zum Beispiel.

Die 44-Jährige arbeitet seit 2004 für Schulz, holt schon um 5.30 Uhr morgens die Schlüssel der Patienten, die Medikamente und das Diensthandy, auf dem alle wichtigen Patientendaten sind. Dann fährt sie ihre Tour. Rund 30 Hausbesuche absolviert sie täglich, die Zeit ist immer knapp, gegessen und getrunken wird im Auto. Zehn Tage am Stück wird gearbeitet, dann hat sie vier Tage frei.

Pflegedienst aus Bretten erledigt rund 500 Hausbesuche am Tag

Rund 500 Hausbesuche bei etwa 350 Patienten täglich erledigen Schulz’ insgesamt rund 80 Kolleginnen und Kollegen – pro Tag. Sie verabreichen Spritzen, helfen bei der Körperpflege, legen Verbände und richten Medikamente. Sie trösten, hören zu, wenigstens kurz.

Die letzte Schicht endet gegen 22.30 Uhr. Manchmal ist eine Mitarbeiterin die einzige Person, die ein alter Mensch am Tag zu Gesicht bekommt, erzählt Schwester Selma. „Ich bin Seelsorgerin, Freundin und Pflegerin zugleich.“ Sie sieht viel Einsamkeit.

PRODUKTION – 13.12.2022, Baden-Württemberg, Bretten: Schwester Selma (l), Mitarbeiterin beim mobilen Pflegedienst Schulz, unterhält sich mit einer Patientin in deren Zuhause. Viele pflegebedürftige Menschen möchten so lange wie möglich zu Hause bleiben. Sie werden betreut von Angehörigen. Und ambulanten Pflegediensten – ohne sie ginge es nicht. (zu dpa „Unter dem Radar – Ambulante Pflegedienste kämpfen an vielen Fronten") Foto: Philipp von Ditfurth/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Schwester Selma unterhält sich mit einer Patientin in deren Zuhause. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa

Die letzten fünf Jahre, gerade auch die Corona-Zeit, seien eine einzige Herausforderung gewesen, sagt ihr Chef Schulz, selbst ausgebildeter Krankenpfleger. Einrichtungen für Tagespflege hatten wegen Corona schließen müssen, Aktivitäten für Senioren wurden gestoppt, Besucher durften nicht mehr zu ihren Liebsten – „aber wir, wir waren immer da bei unseren Kunden“, sagt er, „jeden Tag“.

Sein 1999 gegründeter Betrieb ist einer von mehr als 1.260 ambulanten Pflegediensten im Südwesten, die zusammen rund 40.000 Beschäftigte haben (Stand 2021). Laut Statistischem Landesamt steigt die Zahl der ambulanten Pflegedienste, zuletzt um fast fünf Prozent im Vergleich zu 2019.

Pflegedienste, Krankenhäuser und Seniorenheime suchen verzweifelt und vergeblich Fachkräfte

Die Dienste versorgen den Statistikern zufolge weit über 90.000 Pflegebedürftige in Baden-Württemberg. Und sie suchen genau wie Krankenhäuser oder Seniorenheime so verzweifelt wie vergeblich Fachkräfte. Sie finden niemanden. Selbst bei Stellen für Ungelernte – die etwa im Haushalt von Seniorinnen und Senioren helfen – „es meldet sich kein Mensch“, erzählt Schulz.

Dabei würde er dafür auch ältere Menschen ohne Vorerfahrung einstellen, mit Handkuss, sofort. Fast die Hälfte der Beschäftigten in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen des Südwestens hat laut dem Statistischen Landesamt keinen Berufsabschluss im Bereich Pflege, Heilkunde oder Hauswirtschaft.

Wartelisten für Pflegedienste sind lang

Die Wartelisten potenzieller Kunden sind lang, seit Jahren. Über 50 Menschen stehen beispielsweise für den Wunsch nach Unterstützung im Haushalt bei Schulz auf der Liste. „Wir können den Bedarf nicht abdecken.“

Neue Kunden für die Pflege kann der Pflegedienst oft nur noch in Ausnahmefällen und mit viel Glück annehmen. „Ich habe drei Pflegedienste im Umkreis angerufen“, erzählt dazu der Sohn einer 81-Jährigen Patientin, die von Schulz’ Pflegedienst betreut wird. Zwei hätten gar nicht erst geantwortet.

Man findet nicht in jeder Region Deutschlands von heute auf morgen eine pflegerische Versorgung.
Bernd Tews, Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste

„Man findet nicht in jeder Region Deutschlands von heute auf morgen eine pflegerische Versorgung. Man muss sich meist auf längere Wartezeiten einstellen, auf Leistungen verzichten oder die Versorgung zu Wunschzeiten zurückstellen“, erklärt auch Bernd Tews, Geschäftsführer des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa).

In fast allen Bundesländern hätten Pflegedienste ihr Einzugsgebiet verkleinern müssen oder könnten Wochenenddienste nicht übernommen werden, weil die Pflegekräfte fehlen. „Die Studienlage ist eindeutig, es gibt bereits einen eklatanten Mangel und ein eklatantes Problem“, sagt Tews.

Ein Behälter mit der wöchentlichen Medikamentendosis einer Patientin steht in deren Wohnung auf dem Tisch.
Die Wartelisten potenzieller Kunden sind lang, seit Jahren. Über 50 Menschen stehen beispielsweise für den Wunsch nach Unterstützung im Haushalt bei Schulz auf der Liste. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa

Sorgen bereiten laut Schulz und Tews auch die Preisvereinbarungen mit den Kassen, sprich die festgeschriebene Vergütung, die Pflegedienste für ihre Leistungen erhalten. Das führe dazu, dass Pflegedienste auf aktuelle Krisen wie etwa gestiegene Energiekosten nicht sofort reagieren könnten.

Denn die Preise einfach selber zu erhöhen, das geht nicht. „Man läuft aktuellen Entwicklungen stets hinterher. Deshalb geraten Pflegedienste immer wieder in extreme finanzielle Schieflage“, sagt Tews. Auch das Sozialministerium in Stuttgart spricht von großen Herausforderungen angesichts gestiegener Kosten und Pflegekräftemangel.

Hinweise auf Insolvenzen von Pflegediensten im Südwesten hat das Ministerium nicht – aber Schulz kennt so einige Unternehmen, die grade nicht so gut dastehen. Ein Grund dafür sei auch die Tarifpflicht, die seit 1. September in der Altenpflege gilt.

Nicht, dass Schulz dagegen wäre – er zahlt gerne und schon immer einen hohen Stundenlohn. Aber auch er legt nun 10 bis 15 Prozent obendrauf – und das bei bisher gleichbleibender Vergütung der Leistungen durch die Kassen. Die nämlich werden erst neu verhandelt und bis dahin gehen die Pflegedienste in Vorlage.

Bundesverband: Masken und Desinfektionsmittel werden nicht mehr vom Staat übernommen

Hinzu kommt laut Tews, dass auch Masken und Desinfektionsmittel seit Juli nicht mehr vom Staat übernommen würden – Mitarbeiter der Pflegedienste sind darauf aber nach wie vor angewiesen. „Wir haben immer noch die Pandemie, Mitarbeiter fallen reihenweise aus, Vertretungen müssen organisiert werden, alle laufen am Limit“, sagt Tews.

Überhaupt habe Corona dem Verdruss vieler in der Pflege arbeitenden Menschen viel Nahrung gegeben, ergänzt Schulz. Die Pflicht zur Impfung, der Umgang mit Pflegekräften während der Pandemie – „vom Jubel bis zum Omamörder war ja alles dabei, das hat einen Riesenschaden angerichtet“, sagt Schulz.

Eine Mitarbeiterin beim mobilen Pflegedienst Schulz verlässt die Wohnung einer Patientin.
Schwester Selma liebt ihren Beruf. „Ich bin mehr als zufrieden.“ Foto: Philipp von Ditfurth/dpa

Altgediente Mitarbeiter hätten daraufhin ihren Beruf an den Nagel gehängt. Sein Betrieb aber steht und fällt mit den Beschäftigten, die schon lange dabei sind, denn Nachwuchs ist nicht in Sicht. „Die nächsten fünf bis acht Jahre bekommen wir ein Problem, wenn die in Rente gehen.“

Den neuesten Daten des Statistischen Landesamts zufolge ging die Zahl der Auszubildenden sowie Schülerinnen und Schüler 2021 im Vergleich zu 2019 um 6,3 Prozent zurück. Schwester Selma, gottseidank, will noch lange bleiben, sie liebt ihren Beruf. „Ich bin mehr als zufrieden.“

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