
Auf der Mauer, auf der Lauer – sitzt im Nachkriegsjahr 1946 der kleine Herbert. Zusammen mit zwei Kumpels hat der siebenjährige Junge auf der etwa ein Meter hohen Friedhofsmauer Platz genommen. Von der Erhöhung aus beobachten sie das Geschehen auf dem Wiesentaler Marktplatz.
Was dort vor 77 Jahren zu sehen war, weiß Herbert Ritter, heute 84 Jahre alt, nicht mehr so genau. Genau weiß er aber, dass er dort von der Ortspolizei gefangengenommen worden ist. Warum er sich mit seinen Freunden in der Ortsmitte aufgehalten hat? „Es könnte ein Ringerturnier unter freiem Himmel gewesen sein“, so seine Vermutung.
Die beiden machten finstere Gesichter und schnauzten uns anHerbert Ritter
erinnert sich an die Vergangenheit
Hinter der Mauer lag damals der ehemalige Friedhof mit den alten Gräbern und Grabsteinen. Auf der Ostseite befand sich der Eingang mit dem 1929 errichteten imposanten Gefallenendenkmal. Die Kinder hielten den thronenden Greif für den „Nachtkrabb“.
Jungs saßen friedlich auf der Mauer
Friedlich saßen sie zu dritt auf der Mauer: der Herbert, Klaus und Josef. Nicht weit weg von ihnen befand sich das Wachthäuschen der Wiesentaler Gendarmerie: dort, wo sich heute die Südseite der Sparkasse und der Parkplatz befinden. Von ihrer Dienststelle aus überwachten die Ordnungshüter das Dorf und - mit freiem Blick - den gegenüberliegenden Marktplatz mit möglichen verdächtigen Personen.
„Plötzlich standen zwei Polizisten hinter uns, der eine groß, der andere klein. Wie Pat und Patachon. Schon die Uniformen jagten uns einen gehörigen Schreck ein“, erinnert sich Ritter. „Die beiden machten finstere Gesichter und schnauzten uns an: Auf der Friedhofsmauer zu sitzen, ist verboten. Auf die Toten müssten sich die Lebendigen Rücksicht nehmen. Ob sich da einer beschwert hatte?
Gendarme nehmen die Jungen mit auf die Wachstube
Wir verstanden die Begründung für ihre Beanstandung nicht, hegten aber keine Zweifel, dass die zwei es ernst meinten. Ihr kommt jetzt alle mit, forderten sie uns auf. Wir folgten ihnen gesenkten Hauptes und mussten in der Wachstube strammstehen. Niedergeschlagen erwarteten wir nun mehrere Tage Knast. Oh Gott, wie würden unsere Eltern darauf reagieren?
Ein gleichaltriges Mädchen startet eine Rettungsaktion
Ein gleichaltriges Mädchen, das bei uns an der Friedhofsmauer stand, aber nicht verhaftet wurde, lief ins nahe Lebensmittelgeschäft Gartner und berichtete der als resolut bekannten Inhaberin heulend von unserer Internierung. „Gartners“ war das erste Lebensmittelladen nach dem Krieg und besaß eines der ersten Telefone: Telefonnummer 65.
Wir im „Gefängnis“ wussten nichts von der anlaufenden Rettungsaktion. Plötzlich schrillte der Telefonapparat auf dem Beamtenschreibtisch. Der kleine Wachhabende nahm ab – und wurde sofort kleinlaut. Jawohl, jawohl, Frau Gartner, hörte ich. Selbstverständlich. Ja, ja mach ich.
Uns bellte er an: Ihr könnt jetzt verschwinden. Haut ab. Was die „Gartnern“ den zwei Dorfpolizisten befohlen hatte, erfuhr ich erst später: „Ihr zwei alte Simpel, schämt euch und lasst die Buben frei. Sonst komm ich zu euch und zieh eure Löffel lang.“