
Ihre erste Klientin hat Joyce Saint-Denis nicht vergessen. Versteckt unter einer Schirmmütze war sie in die Beratungsstelle Libelle gekommen.
Am Ende sah man ihren Befreiungsschlag auch an ihrem Äußeren. „Die Mütze war weg, sie hatte eine neue Frisur. Man konnte ihr Gesicht sehen“, erinnert sich Saint-Denis. Sie leitet die Libelle, eine Anlaufstelle für Opfer von häuslicher Gewalt.
Seit 2010 gibt es das Angebot innerhalb der „Sozialpädagogischen Hilfen für Familien und Erziehung“, kurz Sophie, die die Wohlfahrtsverbände des Landkreises Karlsruhe gemeinsam betreiben.
Jüngster Fall von häuslicher Fall in Bruchsal macht Schlagzeilen
„Es ist schön zu sehen, wenn die Befreiung gelingt“, sagt Saint-Denis. Doch bis dahin sei es ein langer Weg. Geprägt von körperlicher und psychischer Gewalt. Zuletzt hat ein Fall in Bruchsal für Schlagzeilen gesorgt.
Bis zur Bewusstlosigkeit soll ein 46-Jähriger seine 34-jährige Frau gewürgt haben. Der Mann sitzt in Untersuchungshaft. Über den Gesundheitszustand seiner Frau gibt es von der Staatsanwaltschaft keine Informationen. Die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen, heißt es.
Deutschland ist gerade vom Europarat dafür gerügt worden, zu wenig für Frauen und Kinder zu tun, die Opfer von Gewalt werden. Häufig gebe es zu wenig Beratungsstellen und Frauenhäuser.
Vor diesem Hintergrund sind Bruchsal und der Stadt- und Landkreis gut aufgestellt mit der Libelle und zwei Frauenhäusern.
Und seit 2021 gibt es im Karlsruher Polizeipräsidium eine „Koordinierungsstelle häusliche Gewalt“, die von Martin Duske geleitet wird. 845 Fälle wurden im Stadt- und Landkreis im vergangenen Jahr angezeigt.
Niemand ist davor gefeit, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden
Damit ist die Zahl im Vergleich zu 2020 leicht gestiegen, damals waren es 800 Fälle. Der Anstieg liege in Teilen auch an der neuen Koordinierungsstelle, wo nun alle Fälle zusammengeführt und ausgewertet werden.
Aber er spiegelt auch den bundesweiten Trend wieder: 2021 gab es in Deutschland 160.000 Opfer, 1,3 Prozent mehr als im Vorjahr, teilen die Innenministerien und Bundeskriminalämter mit.
Die Experten betonen: Niemand sei davor gefeit, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden, auch Männer nicht. In 15 Prozent der Fälle, so Polizist Duske, seien sie betroffen. „Eigentlich geht häusliche Gewalt durch alle Schichten und alle Altersklassen.
Das zeigen die Statistiken der vergangenen Jahre“, sagt er. „Oft spielen Risikofaktoren wie Probleme mit den Kindern, auch aus anderen Beziehungen, Suchtprobleme, geringe Bildung und natürlich Trennungsabsichten der Partner eine große Rolle.“
Diese Konfliktfelder seien aber unabhängig von der Schichtzugehörigkeit zu sehen.
Duske wird noch deutlicher: „Auch in sogenannten gebildeten Schichten kommt häusliche Gewalt vor. Auch dort gibt es das beschriebene Konfliktpotential.
So sind auch ältere Frauen betroffen, die in geordneten Verhältnissen leben, wenn die Kinder aus dem Haus sind, die Beziehung nicht mehr funktioniert und man an Scheidung denkt.“
In der Beratungsstelle heißt das für Joyce Saint-Denis und ihr Team, dass sie täglich in menschliche Abgründe blicken: Vergewaltigungen, Prügel mit dem Staubsaugerrohr oder die Schilderungen einer Frau, die mit heißem Öl übergossen wurde.
Das ist harter Tobak. „Bis die Frauen zu uns kommen, gab es viele Eskalationsstufen“, sagt die Beraterin. Oft dreht sich die Spirale der Gewalt lange Zeit.
Bei Libelle steht die Hilfe zur Selbsthilfe über allem. „Wir zeigen den Frauen alle Möglichkeiten auf: Wollen sie ins Frauenhaus, soll der Mann ausziehen, brauchen sie einen Anwalt oder wollen Anzeige erstatten?
Im Bruchsaler Fall sind Zeugen aktiv geworden
Sie sind die Expertinnen für ihre Entscheidungen“, so Saint-Denis. Gründe zu bleiben gebe es immer: „Er ist doch mein Mann, der Vater meiner Kinder. Was sollen die Leute denken? Wir führen doch ein gutes Leben mit Haus und Garten. Seit Monaten ist nichts passiert, er wird sich ändern“, zählt die Leiterin häufig genannte Argumente auf.
Am Ende sind es aber doch meistens die Opfer selbst, die die Reißleine ziehen und Strafanzeige stellen. So hat man das bei der Koordinierungsstelle der Polizei beobachtet. Im Bruchsaler Fall sind Zeugen aktiv geworden und haben die Polizei verständigt.
Beraterin Saint-Denis: „Man muss immer daran denken, dass man damit jemandem hilft.“ Angehörigen rät sie, mögliche Opfer anzusprechen und ihnen zu verstehen zu geben: „Ich bin da, wenn du mich brauchst.“