Renate Debelt ist seit über 50 Jahren beim TSV Oberöwisheim aktiv. In der Turnabteilung und bald war sie auch verwaltend im Gesamtverein gefragt. Bis heute. Sie sagt, sie ist „neigwachse“ in die Gemeinschaft.
Mit schönen Tagen und schwierigen Phasen. Und empfindet Renate Debelt ein solches „Wir-Gefühl“ auch für „ihre“ Stadt Kraichtal? „Dafür war ich immer offen. Ich habe gespürt, dass da mehr zusammengewachsen ist. Es kamen Leute aus Unteröwisheim und Menzingen zu uns.“
Und Debelt selbst schaute, was in der Nachbarschaft besser sei. Beispielsweise bei Vereinsräumen. Aber das sei oft schwierig gewesen. Keine Termine frei, örtliche Gruppen hatten Vorrang. Zur Stärkung des Sportlebens kann sich Debelt vorstellen, dass man Attraktives konzentriert in Kraichtal.
15.400 Einwohner und 150 Vereine in Kraichtal
Etwa um hauptamtliche Betreuer zu ermöglichen für 15.400 Einwohner, die sich auf neun Orte verteilen. In denen gibt es 150 Vereine und vieles „mal neun“.
Seit 50 Jahren ist er offiziell, der Mega-Zusammenschluss. Von zwei Städten (Unteröwisheim und Gochsheim) sowie sechs Gemeinden des alten Kreises Bruchsal (Münzesheim, Oberöwisheim, Neuenbürg, Oberacker, Menzingen, Bahnbrücken) plus Landhausen aus dem Kreis Sinsheim. Am 1. September 1971 trat der Fusionsvertrag in Kraft.
Das merkwürdige Kind der Verwaltungsreform steht mit fünfzig mitten im Leben. Hört man sich um, äußern ähnlich wie Renate Debelt viele eher ältere Bürger: Man lebt in Menzinge oder Owwerroise (Oberöwisheim), aber mit Kraichtal als Gesamtkommune. Etwas glücklicher, wenn die örtlichen Interessen gut berücksichtigt werden, etwas schlechter, wenn andere Stadtteile sich einen Vorsprung erarbeiten.
Stadtbahn und Acker-Partys als Plus in Kraichtal
„Junge Leute denken über die Teile hinaus, da werden die Möglichkeiten Kraichtals eher genutzt. Denn in den kleinen Orten gibt es nicht mehr viel für uns“, sagt Martin Schmid. Er ist einer der Sprecher des Jugendzentrums Pfiff und stammt aus Neuenbürg. Es gehört wie Bahnbrücken und Oberacker zu den kleinsten Stadtteilen mit unter 700 Einwohnern.
„In den weiterführenden Schulen von Ubstadt und Bruchsal kamen die Kraichtäler meist in eine Klasse, das hat zusammengebracht“, erinnert sich Schmid. Wer nach der Ausbildung in Kraichtal bleibt, hat wenig Lokale als Treffpunkt. Aber die Stadtbahn. „Und es gibt immer die Ackerpartys mit viel Platz.“
Zwischen den Hügeln finden sich genug Grundstücke oder Gartenhäuschen für Treffs und Feiern. Ausfallen musste zuletzt zwei Mal das sommerliche Musikevent „Anti-Fruschd“ des Jugendzentrums Pfiff.
Verwaltung von Kraichtal ist in einem Stadtteil konzentriert
Klaus Rieth ist Menzinger und Vorsitzender des Akkordeon Spielrings. Er und viele Bürger haben nur schwer verstanden, dass Volksbank und Sparkasse nur noch mit einem Automaten am Ort vertreten sind. „Und die Einkaufsmöglichkeiten schlechter wurden. Ich weiß, dass sich die Stadt um Supermärkte bemüht, aber sie kann nichts erzwingen“, bilanziert Rieth.
Allgemein werde es bedauert, dass es keinen Ortsreferenten und kein Bürgerbüro mehr in Menzingen gibt, das mit 2.000 Einwohnern zu den mittelgroßen Stadtteilen zählt. Märkte sind zentriert in Unteröwisheim und Münzesheim. Mit der Bahn komme man schnell zum Rathaus, aber einen Parkplatz im Münzesheimer Zentrum zu finden sei schwer.
Insgesamt hätten die Orte zusammengefunden. Vor allem der erste Bürgermeister Berthold Zimmermann (1971 bis 1988) und sein Nachfolger Horst Kochendörfer (1988 bis 2004) setzten sich stark ein. Nun hoffe man auf Tobias Borho.
„Horst Kochendörfer als Segen“
Neun Teilorte zusammen zu verwalten – das sei schwierig und eigentlich könne ein so großer Zusammenschluss nicht sinnvoll sein. „Aber Horst Kochendörfer war als Bürgermeister ein Segen“, findet Roswitha Müller. Die Mentalitäten und die Interessen auszugleichen erfordere Anstrengung.
Durch die Pandemie fielen Ideen und Kontakte weg, überhaupt geht die örtliche Vernetzung zurück.Roswitha Müller, Beirätin des Kraichtaler Heimat- und Museumsvereins
Müller ist Münzesheimer Beirätin des Kraichtaler Heimat- und Museumsvereins, auch Stadtführerin und hat das sehenswerte Torwächterhaus mit renoviert. „Früher gab es mehr solches Engagement. Durch die Pandemie fielen Ideen und Kontakte weg, überhaupt geht die örtliche Vernetzung zurück“, hat die Aktivistin festgestellt.
Wurde Gefühl der Zusammengehörigkeit in Kraichtal geringer?
Karl-Heinz Glaser hat 2020 die Geschichte Kraichtals und seiner Orte seit 1945 in einem Buch beschrieben. Dort enthält er sich einer Wertung, ob die Stadt seit 1971 zusammenfand. Heute befragt findet er: „Vergleicht man die schlechte Infrastruktur der 1960er Jahre, schaut auf die vom ersten Bürgermeister vorangetriebenen Investitionen oder die Entwicklung der Feuerwehren, dann haben alle in Kraichtal profitiert. Dennoch scheint das Gefühl der Zusammengehörigkeit in den letzten Jahren ein Stück weit verloren gegangen zu sein.“
Über die Gründe könne man nur spekulieren. Kündigungen, auch von sehr erfahrenen Mitarbeitern der Stadtverwaltung bis 2020, seien als eine Art „Fluchtbewegung“ in jener Phase empfunden worden. Immerhin halten die Vereine sowie Kirchen- und Pfarrgemeinden das Gemeinschaftsleben hoch.