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"Hat Spuren hinterlassen"

Betroffener berichtet: Verschickungskinder arbeiten Misshandlung in Heimen auf

Es dauert Jahrzehnte, bis Jürgen Leibold die Misshandlung bewusst wurde. Der 55-Jährige ist wie viele Verschickungskinder in einem Heim psychisch und physisch misshandelt worden. Was haben die Erlebnisse mit ihm gemacht? Leibold erzählt, wie er seine Geschichte aufarbeitet.

Jürgen Leibold möchte seine Geschichte erzählen – damit sich auch andere Betroffene melden.
Jürgen Leibold möchte seine Geschichte erzählen – damit sich auch andere Betroffene melden. Foto: Raviol
Es dauerte Jahrzehnte, bis Jürgen Leibold die Misshandlung bewusst wurde. Der 55-Jährige ist wie viele Verschickungskinder in einem Heim psychisch und physisch misshandelt worden. Was haben die Erlebnisse mit ihm gemacht? Leibold erzählt, wie er seine Geschichte aufarbeitet.

„Den 22. November 2019 werde ich nie vergessen.“ Jürgen Leibold hat an dem Tag in den BNN das erste Mal den Begriff „Verschickungskinder“ gelesen. Kinder, die zwischen den Fünfziger- und Neunzigerjahren über die Ferien in Kinderheime gegeben wurden. Viele von ihnen kehrten nach Misshandlungen traumatisiert zurück. An diesem Novembertag liest Leibold, Erinnerungen und Ängste kommen plötzlich hoch.

Er realisiert: „Ich war eins dieser unzähligen Verschickungskinder.“ Der Versicherungsexperte geht früher von der Arbeit nach Hause, sucht dieses Fotoalbum in seinem Haus in Forst. Darauf ist er als Siebenjähriger mit anderen Buben beim Aufenthalt in einem Kinderheim in Wyk auf Föhr zu sehen, er strahlt. Erst am 22. November 2019 beginnt Leibold zu verstehen, was dort wirklich passiert ist.

Nach der Postkarte eine Tracht Prügel

Der 55-Jährige schreibt den BNN: „Ihnen möchte ich danke sagen für den Artikel. Er wird mich noch lange Zeit beschäftigen.“ Ein paar Monate später erzählt er seine Geschichte und wie er sie aufarbeitet.

Seine Eltern ließen ihn für vier Wochen durch den Hausarzt in das Kinderheim nach Föhr vermitteln, weil er an Bronchitis litt. Zu seinem Geburtstag schickten sie ihm einen Kuchen. Leibold bekam ein Stück, den Rest teilten die Erzieherinnen unter sich auf, die Schokolade bekamen die anderen Kinder.

Der Siebenjährige schrieb seinen Eltern eine Postkarte: „Da ich nichts davon bekomme, braucht ihr mir auch nichts schicken.“ Die Karte wurde zerrissen. „Und es gab die erste Tracht Prügel.“

Da ging es mir unheimlich schlecht.
Jürgen Leibold, Verschickungskind aus Forst

Eines Nachts musste ein Junge auf Toilette. „Es gab eine Dynamik – wenn einer geht, gehen alle.“ Die Jungen standen in einer Reihe an, jeder wurde nacheinander aufs Knie der Erzieherin gelegt und bekam einen Schlag mit dem Stock – dann durfte er bei offener Tür pinkeln.

In einer anderen Nacht hatte Leibold im Schlaf mit seinem Finger Löcher in die Tapete gemacht. Es fiel den Erzieherinnen auf. Während die anderen am Tag darauf Strand Muscheln sammelten, musste Leibold bis zum Abend in seinem Bett sitzen.

„Da ging es mir unheimlich schlecht“, sagt er. „Durch diese Situationen hatte ich unheimlich Heimweh bekommen.“ Wie lange eine Erzieherin vor dem Zimmer lauerte, konnte er nur ahnen.

Jeden Tag Reis – und acht Kilo Übergewicht

Wieder und wieder gab es Reis mit getrockneten warmen Pflaumen zum Mittagessen. Manche Kinder mussten mehrere Teller davon essen, erbrachen, und mussten weiter essen. Leibold weigerte sich und musste bis zum Abendessen sitzen bleiben – dann gab es wieder seinen alten Teller. Irgendwann war auch dieses Kind gebrochen – er kehrte mit acht Kilo Übergewicht nach Hause zurück.

In den Jahren darauf machten ihm im Wehrdienst oder im Landschulheim Mehrbettzimmer zu schaffen – auch bei Auswahlcamps des Badischen Fußballverbands. „Ich dachte, hoffentlich geht die Kasernierung so schnell wie möglich vorbei.“ Zu stark waren die Erinnerungen an die Übernachtungen im Heim.

Es bleiben viele offene Fragen

Der talentierte Fußballer schaffte es bis in die 3. Liga. Hätte er es mit einer unbeschwerteren Leistung in den Auswahltrainings noch weiter geschafft? Was wäre aus seiner Ehe geworden? Nach einem Treffen in der Selbsthilfegruppe sagt er: „Keiner hat die Ehe halten können, ich auch nicht.“

Leibold denkt bis heute darüber nach, welchen Einfluss die vier Wochen auf sein späteres Leben hatten. „Ich weiß nicht, wie ich mich ohne dieses Heim entwickelt hätte. Vielleicht hätte ich früher darüber reden sollen.“ Mit seinen Eltern hat er nun stundenlang darüber gesprochen. „Sie waren sehr traurig.“

50 Betroffene aus der Region meldeten sich

Er betont: „Ich finde es gut, wenn man darüber spricht. Vielleicht meldet sich dann noch der ein oder andere, der schweigt.“ Der Austausch mit anderen Betroffenen habe ihm sehr gut getan.

Sieben Menschen aus der Region seien in der Selbsthilfegruppe, sagt Petra Beller. Sie koordiniert die Aufklärungsarbeit in Baden mit 50 Betroffenen. Der Austausch findet auch per Mail oder in einer privaten Facebook-Gruppe statt. Viele Betroffene sprechen über zu viel oder zu wenig Essen in den Heimen oder von Isolation als Bestrafung, manche über körperliche Gewalt.

„Das hat Spuren hinterlassen“, sagt Beller. Viele hätten später Probleme mit ihrer Bindungsfähigkeit oder mit Autoritäten gehabt. Alles kann man nicht auf die Erlebnisse zurückführen, doch die hohe Anzahl gleichartiger Rückmeldungen sind mehr als nur ein Indiz.

Ein Besuch auf der Insel steht an.
Jürgen Leibold, Verschickungskind aus Forst

„Das Schlimmste für die Betroffenen wäre, wenn das Thema im Sande verläuft“, sagt Beller. „Alle wünschen sich, dass mehr in der Öffentlichkeit darüber gesprochen wird.“ Manche nutzen die Treffen für ihre Aufarbeitung, anderen reicht das Gefühl, nicht alleine zu sein.

Jürgen Leibold hat einen klaren Plan. Er war beruflich und privat längst wieder auf nordfriesischen Inseln – Föhr hatte er unterbewusst aber über Jahrzehnte gemieden. „Ich habe beschlossen, dass ich da mal hinfahre“, sagt er. An zwei, drei Orte kann sich der 55-Jährige erinnern. Die Fähre, die raue Überfahrt, die Nordsee. „Ein Besuch auf der Insel steht an.“

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