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Dramatische Wohnungsnot

Wenn Furzfische die Mieten hochtreiben

Die Wohnungsnot in Baden-Württemberg war Thema bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Architektenkammer und der Stadt Bühl. Fred Gresens, Bezirksvorsitzender der Architektenkammer Südbaden und hauptberuflich Vorstandschef der Mittelbadischen Baugenossenschaft in Offenburg, forderte weniger Bürokratie, Naturschutz und Denkmalschutz. Unsinnige Vorschriften will er abschaffen, damit schneller gebaut werden kann.

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Wohnungsbau stand im Mittelpunkt: (von links) Corina Bergmaier, Leiterin der Baurechtsbehörde der Stadt Bühl, Nobuhiro Sonoda (Architektenkammer Baden-Baden/Rastatt) und Fred Gresens (Architektenkammer Südbaden) Foto: Ulrich Coenen

„Neue Wege“ forderte OB Hubert Schnurr in seiner Begrüßung. Nobuhiro Sonoda, der Vorsitzende des Kammergruppe Baden-Baden/Rastatt der Architektenkammer, sprach von einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Stadt und Kammer hatten am Freitagabend gemeinsam zum Vortrag und zur Ausstellungseröffnung „Wohnen in Baden-Württemberg“ in den Friedrichsbau in Bühl eingeladen. Fast 70 Architekten waren gekommen, um das Referat von Fred Gresens zu hören.

„Freund klarer Worte”

Der Architekt ist Bezirksvorsitzender der Architektenkammer Südbaden und hauptberuflich Vorstandschef der Mittelbadischen Baugenossenschaft in Offenburg. „Ich bin ein Freund klarer Worte“, konstatierte er gleich zu Beginn seines Vortrags, in dem er zahlreiche provokante Thesen aufstellte (siehe Kommentar am Ende dieses Beitrags). Für Gresens, der 1993 in Karlsruhe über Niedrigenergie-Gebäude promoviert hat, ist klar: Nur mit einem erheblichen Bürokratieabbau und einer starken Nachverdichtung lässt sich die Wohnungsnot lösen. Naturschutz, Denkmalschutz und aus Sicht von Gresens überflüssige und falsche Sicherheits- und Dämmvorschriften im Bereich des Bauens müssen spürbar zurückgedrängt werden.

Eine Million Wohnungen fehlen

„In Baden-Württemberg fehlen pro Jahr 65.000 Wohnungen“, berichtete Gresens. Insgesamt seien es 200.000, bundesweit sogar eine Million. „Vor allem bezahlbare Wohnungen gibt es nicht“, betonte er. Diese würden immer wichtiger, weil inzwischen 60 Prozent der Bundesbürger, also längst auch die mittleren Einkommen, Anspruch auf Sozialwohnungen hätten. Es räche sich, dass viele Kommunen in den vergangenen Jahren ihre Sozialwohnungen verkauft hätten. Die von der Landesregierung eingesetzte Wohnraum-Allianz sei ineffektiv. „Die Leute gehören aus dem Gremium geworfen und durch andere ersetzt“, forderte er. Die Niederlande würden es vormachen. Von 20000 Bauvorschriften seien dort noch 6000 übrig geblieben. Die föderalistische Bundesrepublik bekomme hingegen nicht einmal Landesbauordnungen hin, die eine gemeinsame Definition für Vollgeschosse fänden.

Zu viel Bürokratie

An den hohen Mieten und Kaufpreisen für Wohnungen sind nach Gresens Ansicht in Deutschland vor allem die überzogene Bürokratie und „endlose Genehmigungsverfahren“ schuld. Insbesondere die Nebenkosten der Mieten würden durch unsinnige Vorschriften beispielsweise für die Wartung von Aufzügen oder für den Einbau von Lüftungen, die viele Nutzer nach seiner Erfahrung gar nicht wollen, dramatisch steigen. Für Tierfutter gelte ein Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent, für Wohnungen, die ein Lebensrecht seien, 19 Prozent. „Ja geht´s noch?“ fragte Gresens.

Ist der Naturschutz überflüssig?

Der aus Sicht des Referenten völlig überzogene Naturschutz behindere mit seiner übertriebene Liebe für Fledermäuse (beispielsweise im Bühler Stadtteil Neusatz), Furzfische (in Hamburg) oder Bäume (in der Bühler Innenstadt) wichtige Neubauprojekte. Das Landesdenkmamt will Gresens auflösen. Die „Grande Nation“ Frankreich habe 40.000 Denkmäler, Baden-Württemberg 90 000. Und immer kämen neue hinzu. Für den Referenten überflüssig.

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Fred Gresens kritisierte zu viel Bürokratie. Foto: Ulrich Coenen

Kritik an Ortschaftsräten

Vor allem die Ortschaftsräte, die wie jüngst in Altschweier oder Neusatz große Wohnprojekte behindern, bekamen ihr Fett weg. Fünfgeschossige Neubauten sollten auch auf dem Dorf kein Tabu sein. In Innenstädten wie in Bühl kann sich Gresens auch sieben Geschosse vorstellen. „Die Infrastruktur steht“, meinte er. „Man sollte deshalb eine Mindestdichte fordern statt immer neue Flächen zu erschließen.“ Vorbild für Gresens ist Paris, die am dichtesten besiedelte Metropole Europas („Wir finden es alle ganz toll, wenn wir durch diese Stadt laufen“). Dort leben rund 20.000 Einwohner pro Quadratkilometer. „Auf Bühl mit seinen nur 30 000 Einwohnern übertragen müssten hier bei entsprechender Dichte 1,5 Millionen Menschen leben“, stellte er fest.

Paradigmenwechsel

Fred Gresens will einen Paradigmenwechsel. Die aktuelle gültige deutsche Baunutzungsverordnung von 1962, die sich noch an der berühmten Charta von Athen von 1933 orientiere, sei längst überholt. Der Referent forderte eine Neuorientierung an der Charta von Leipzig zur nachhaltigen europäischen Stadt (2007).

Qualifizierte Nachverdichtung

Gresens kritisierte insbesondere das in Deutschland erlaubte Maß der baulichen Nutzung für Grundstücke, das unter anderem durch Grundflächenzahl (GRZ) und Geschossflächenzahl (GFZ) definiert wird. Die GRZ gibt an, wie groß der Anteil der überbauten Grundfläche eines Grundstücks im Verhältnis zu seiner Gesamtfläche sein darf, die GFZ wie groß die Geschossfläche im Verhältnis zur Grundstücksfläche. Diese Werte will Gresens deutlich anheben. Er nannte das „qualifizierte Nachverdichtung“. Um die explodierenden Mieten und Wohnungspreise zu bremsen, seien auch die Kommunen gefordert. Nach dem Vorbild der Stadt Wien sollten sie ihre Flächen nicht meistbietend an Investoren verkaufen, sondern eine Höchstmiete von beispielsweise 7,50 Euro pro Quadratmeter vorschreiben. Darauf könnten sich Investoren mit ihren Konzepten bewerben. Die beste Idee erhalte den Zuschlag, wobei auch die Baukultur ein wesentlich Aspekt sein müsse.

Die Ausstellung zum Thema Wohnen ist vom 26. März bis 3. April in der Mediathek in Bühl zu besichtigen.

Kommentar zum Thema

Das hat gesessen. Fred Gresens hat kräftig ausgeteilt und auf Missstände hingewiesen. In Deutschland gibt es Nachholbedarf, wenn man die Wohnungskrise bekämpfen will. Mit seinen provokanten Thesen will der Funktionär der Architektenkammer wachrütteln, aber er schießt in vielen Punkten auch deutlich über das Ziel hinaus. Eine Nachverdichtung um jeden Preis darf es nicht geben. Auch wurde in Paris keineswegs das Ei des Kolumbus gefunden. Brennende Barrikaden in den Banlieues und neuerdings auch in der Innenstadt zeigen ebenso wie die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ in der Berliner Gropius-Stadt, wohin eine maßlose Verdichtung führen kann. Mit den falschen Konzepten von gestern lässt sich die Stadt der Zukunft nicht gestalten. Eine hemmungslose Nachverdichtung, die Altstädte und historische Dorfkerne zerstört, ist nicht wünschenswert. Ganz im Gegenteil müssen die Kommunen in Altstadtbereichen und Dorfkernen, in denen kein Bebauungsplan gilt, nach dem unseligen Paragrafen 34 des Baugesetzbuches viel zu viele Projekte genehmigen, die den städtebaulichen Kontext sprengen. Gleichzeitig wird immer noch zu häufig abgerissen. Das betrifft nicht nur denkmalgeschützte Bausubstanz, die von ihren Eigentümern bewusst vernachlässigt wird, sondern auch nicht denkmalgeschützte, aber dennoch wertvolle Bestandsbauten, die das Ortsbild prägen. Leider erlassen die Kommunen viel zu selten Erhaltungssatzungen, um ganze Quartiere mit solchen Gebäuden zu schützen. Wenn Gresens dann auch noch die Auflösung des Landesdenkmalamtes fordert, ist das völlig verfehlt. Bevor man Altstädte und historische Dorfkerne zerstört, muss man notfalls neue Flächen erschließen. Wohnen ist ein Menschenrecht, aber Wohnen muss auch menschenwürdig sein. Dennoch hat Gresens mit vielem recht. Außerhalb der historischen Ortskerne muss eine Nachverdichtung möglich sein, sowohl in der Stadt als auch auf dem Dorf. Es ist bedauerlich, dass kein einziger der 26 Bühler Stadträte seinen Weg zu dieser wichtigen Veranstaltung gefunden hat. Auch die allermeisten Mitarbeiter des Fachbereichs Stadtentwicklung, Bauen und Immobilien der Stadtverwaltung glänzten durch Abwesenheit. Offensichtlich ist das Thema noch nicht in Bühl angekommen.

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