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Folgen der Corona-Müdigkeit

Karlsruher Soziologin im Interview: "Mit der Maskenpflicht haben Trotzreaktionen zugenommen"

Seit gut zwei Monaten bestimmt und verändert die Corona-Krise das gesellschaftliche Zusammenleben in Karlsruhe. Die Menschen gehen sich behördlich verordnet aus dem Weg, sie tragen Masken, die die Mimik verstecken. Die Spannungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Einschränkungen nehmen spürbar zu. Für Teile des Lebens fehlen Perspektiven. Wie Soziologin Annette Treibel-Illian das einordnet.

Annette Treibel-Illian ist Leiterin des Master-Studiengangs „Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit“ an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.
Annette Treibel-Illian ist Leiterin des Master-Studiengangs „Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit“ an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Foto: Sandbiller

Seit gut zwei Monaten bestimmt und verändert die Corona-Krise das gesellschaftliche Zusammenleben. Die Menschen gehen sich behördlich verordnet aus dem Weg, sie tragen Masken, die die Mimik verstecken. Die Spannungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Einschränkungen nehmen spürbar zu. Für Teile des Lebens fehlen Perspektiven.

Unser Redaktionsmitglied Pascal Schütt hat mit der Karlsruher Soziologin Annette Treibel-Illian über die aktuellen und mittelfristigen Auswirkungen der Krise auf das gesellschaftliche Zusammenleben gesprochen.

Wie haben knapp zwei Monate Corona-Lockdown das Miteinander aus Ihrer Sicht verändert?

Annette Treibel-Illian: Ich habe den Eindruck, viele Menschen haben sich sogar zivilisierter verhalten. Sie haben eine erhebliche Selbstdisziplin gezeigt, sich mit einer Situation arrangiert, die sie überhaupt nicht toll finden. Viele haben dabei emotionale Ausnahmesituationen erlebt, auf die man sich nicht vorbereiten kann.

Ich habe beispielsweise meine Schwiegermutter bis an den Eingang des Pflegeheims gebracht, ohne zu wissen, wann wir uns wiedersehen. Hunderttausende haben so etwas erlebt und die Unsicherheit nur schwer ausgehalten. Aber die meisten wurden nicht leichtfertig.

Ich habe viel Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein gesehen. Wer anderer Meinung war und Regeln missachtet hat, hat zum Teil viel Aufmerksamkeit bekommen. Aber das ist nicht repräsentativ. Was mit wenig Reibung funktioniert, dringt nicht so sehr nach außen.

Masken verändern den Umgang miteinander

Wie wirken sich die geforderten Abstände und seit gut drei Wochen die Maskenpflicht auf unsere Gesellschaft aus?

Empirische Daten dazu gibt es noch nicht. Aber ich habe schon den Eindruck, dass mit der Maskenpflicht auch trotzige Reaktionen zugenommen haben. Manche handeln nach dem Motto „Das lasse ich mir doch nicht vorschreiben“.

Durch die Masken ist es schwieriger geworden, etwas Besonderes zu sein. Also suchen sich manche andere Wege, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist aber keine Mehrheit. Allgemein empfinde ich die Stimmung eher gedämpft, aber nicht aufgeregt.

Das Hamstern von Klopapier oder ein Friseurtermin werden plötzlich zu großen gesellschaftlichen Themen. Das zeigt, dass die Menschen sich mit etwas anderem als Infektionsraten beschäftigen möchten.

Stichwort Mund-Nasen-Schutz: Durch ihn sind große Teile der Mimik nicht mehr zu erkennen. Was macht das mit der Gesellschaft?

Das ist in der Tat ein großer Eingriff in unser Zusammenleben. Der Gemütszustand eines Menschen ist kaum noch erkennbar, ein Blick auf die Augenpartie kann das nicht ausgleichen. Vielleicht kann eine gesteigerte Gestik da helfen, aber da ist der Badener im Allgemeinen eher zurückhaltend. Ich denke, wir müssen hier gesellschaftlich lernen, mit der reduzierten Form des Miteinanders umzugehen.

Schutzmasken werden uns wohl erhalten bleiben, selbst wenn ein Impfstoff gefunden ist.
Annette Treibel-Illian, Soziologin

Als Momentaufnahme oder dauerhaft?

Schutzmasken werden uns wohl erhalten bleiben, selbst wenn ein Impfstoff gefunden ist. Ich denke, sie werden zum Alltagsgegenstand. Man wird sie nicht immer tragen, aber zu Hause haben und wissen, wie man damit umgeht.

Schon bei der nächsten großen Grippewelle könnten sie dann wieder zum Einsatz kommen. In vielen asiatischen Ländern ist das ja seit Jahren Usus. In Japan habe ich das selbst erlebt, da fühlte ich mich ohne Maske schon fast als Außenseiterin.

Vor allem für Teile der Kultur und das Nachtleben fehlen derzeit klare Öffnungsperspektiven. Was passiert mit diesem Teil unserer Gesellschaft?

Ich fürchte, dass die sogenannte Erlebnisgesellschaft erhebliche Einbußen erleidet. Geselligkeit von vielen in drangvoller Enge, das ist schwer vorstellbar. An volle Theater oder Discos ist erst einmal nicht zu denken – ganz zu schweigen von Stadien.

Das Sehen und Gesehen werden, die Freude am unterwegs sein wird uns mittel- bis langfristig sehr fehlen. Andererseits sind viele Kulturschaffende dabei, neue künstlerische Ausdrucksformen zu finden.

Rückkehr der Erregungsgesellschaft in der Corona-Krise

Gibt es einen Weg zurück zur „alten“ Normalität?

Das weiß ich nicht. Die Sehnsucht ist bei vielen sicher da. Ich habe auch Momente, in denen mich die Verzweiflung einholt und mir klar wird, dass das „alte Leben“ zumindest für lange Zeit nicht mehr zurückkehren wird.

Ich schreibe meine Texte zum Beispiel gerne in der Landesbibliothek. Jetzt ist sie kein Ort der Ruhe mehr, sondern ein hektischer für kurze Aufenthalte. Das ist natürlich ein Luxusproblem, wie ein abgesagter Abiball, aber es tut weh. Ähnliche Erlebnisse beschreiben derzeit viele Menschen.

Wir erleben zunehmende Spannungen zwischen Befürwortern und Gegnern von Lockerungen. Woher kommt das teils verbitterte Eintreten für das eine oder andere?

Das finde ich, ehrlich gesagt, nicht überraschend. Es ist die Rückkehr der Erregungsgesellschaft, die einige Wochen pausiert hat. Viele Menschen wissen nicht, was sie glauben sollen.

Also suchen sich manche Gurus, denen sie glauben möchten. Für sie ist es ein Widerstand gegen den gesellschaftlichen Konsens. Viele Populisten kehren nun zurück aufs Spielfeld. Das Schimpfen auf den vermeintlichen Mainstream gab es schon lange vor der Corona-Krise.

Ich habe großen Respekt vor Menschen, die beispielsweise Kinder und Arbeit unter einen Hut bringen müssen.
Annette Treibel-Illian, Soziologin

Wie lange kann die Gesellschaft in diesem Ausnahmezustand funktionieren?

Man muss beim Blick auf eine mögliche zweite Welle oder die lange Zeit bis zur Entwicklung eines Impfstoffs damit rechnen, dass noch einiges an Problemen und persönlichen Krisen hinterher kommt.

Das ist eine sehr spannende Frage: Wie hält man sowas aus? Ich habe großen Respekt vor Menschen, die beispielsweise Kinder und Arbeit unter einen Hut bringen müssen. Da ist es teils schwierig, nicht die Nerven zu verlieren.

Zumal es für Schulen und Kitas noch immer keinen fertigen Fahrplan gibt. Was macht die weggefallene gesellschaftliche Arbeitsteilung mit Familien?

Es herrscht ein hoher Druck im häuslichen Kessel, davon muss man bei vielen ausgehen. Oft sind es Frauen, die aktuell das Arrangement irgendwie stemmen müssen, auch wenn es Ausnahmen gibt.

Sie und die Kinder sind eher von häuslicher Enge oder sogar Gewalt betroffen. Die Krise offenbart aber wie unter einem Brennglas auch gesellschaftliche Schieflagen, die es schon lange gibt – zum Beispiel den Lehrermangel.

Acht Wochen sind im Leben eines Sechsjährigen eine unheimlich lange Zeit.
Annette Treibel-Illian, Soziologin

Viele Eltern müssen seit Wochen die Rolle von Erziehern oder Lehrern übernehmen…

Ja, ich bin sehr gespannt, wie sich das auf das Verhältnis zwischen diesen Gruppen auswirkt. So nah wie jetzt waren sie sich noch nie. Das hat ja teilweise schon voyeuristische Züge. Da bekommen Lehrer beispielsweise per Videoschalte Einblicke in das Zuhause. Andersherum sind die Eltern quasi in den Unterricht zugeschaltet.

Eltern und Kinder sitzen zurzeit viel enger aufeinander als normal. Oma und Opa sind dafür auf Distanz. Wie kommt man damit klar?

Das schaffen viele Ältere vermutlich sogar besser als die Jungen – sofern sie körperlich und geistig fit sind. Sie haben ein wechselvolles Leben hinter sich, vielleicht sogar Elend oder Krieg erlebt. Die strahlen eine größere Gelassenheit aus.

Bei Enkeln ist das etwas anders. Denn acht Wochen sind im Leben eines Sechsjährigen eine unheimlich lange Zeit. Für Gespräche kann man den Kontakt jetzt ans Telefon oder ins Internet verlagern. Aber auf gemeinsame Aktivitäten zu verzichten, ist natürlich nicht leicht.

Karlsruher Soziologin: Corona-Müdigkeit ist teilweise schon zu spüren

Wie wirkt sich perspektivisch die wohl noch länger anhaltende internationale Abschottung aus?

Das hat ganz verschiedene Aspekte. Für Wirtschaft und Grenzverkehr wird es schnelle Lösungen geben, die haben große Lobbygruppen. Die globale Mobilität der Menschen hingegen wird sicher noch lange von Unsicherheit behaftet sein.

Das betrifft große Gruppen in unserer Gesellschaft, beispielsweise Menschen, die in mehreren Ländern zuhause sind. Für sie ist überhaupt nicht absehbar, wie sich das alles auswirkt. Noch schwieriger ist es für Flüchtlinge, die zum Beispiel unter fürchterlichen Bedingungen auf griechischen Inseln ausharren. Die haben keine einflussreiche Lobby.

Ist die Gesellschaft Corona-müde?

Teilweise. Und je länger es dauert, desto stärker wird man das spüren. Das ist auch ganz normal. Über längere Zeit in einer Ausnahmesituation zu sein, ist anstrengend. Wir wussten noch nie, was die Zukunft bringt und sollten trotzdem nicht fatalistisch sein. Sich immer wieder an die wechselseitige Verantwortung zu erinnern, kann auch stark machen.

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