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Verunsicherung und Geldnot

Das Bundesteilhabegesetz sorgt in der Region für Chaos

Mit dem Bundesteilhabegesetz hat sich für Menschen mit Behinderungen seit Januar einiges verändert. Gesetzliche Betreuer und die Lebenshilfe Bruchsal-Bretten sprechen jedoch von "Chaos". Einrichtungen bleiben auf Kosten sitzen und die Betroffenen sind verunsichert.

Stress am Arbeitsplatz ist selten allein Auslöser psychischer Erkrankungen, kann diese aber begünstigen.
Stress am Arbeitsplatz ist selten allein Auslöser psychischer Erkrankungen, kann diese aber begünstigen. Foto: Foto: Berg/dpa

Plötzlich muss Andreas (Name von der Redaktion geändert) sein Mittagessen bei der Arbeit selbst bezahlen. Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) und den dazugehörigen organisatorischen Änderungen liegt er im Gegensatz zu vorher über einer finanziellen Grenze, die den Zuschuss verhindert. Sein Geld verwalte er schon lange selbst. Mehr Teilhabe verspüren er und sein Kollege Jakob (Name von der Redaktion geändert) aber nicht.

Sie arbeiten beide in den Werkstätten der Lebenshilfe Bruchsal und sind psychisch krank. „Das BTHG war ja gut gemeint, aber es ist nicht gut gemacht“, sagt Andreas. Jakob stimmt ihm dahingehend zu: „Man hätte manches besser gelassen, wie es war.“ Einen positiven Aspekt nennt er jedoch: „Die Vermögensgrenze wurde hochgesetzt, das ist gut.“

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Der Zuschuss fürs Mittagessen fehlt

Die Kosten für das Mittagessen waren vor dem Start des BTHG in der Eingliederungshilfe verwoben. Nun bekommen das Geld dafür nur noch Menschen mit Anspruch auf Grundsicherung erstattet, erklärt Wolfgang Stoss vom Sozialdienst der Lebenshilfe. Doch genau von dieser wolle Andreas eben nicht abhängig sein. „Das Geld fürs Mittagessen fehlt mir jetzt, um es fürs Alter anzusparen.“ Doch noch etwas anderes beschäftigt den 38-Jährigen: „Ich würde mir wünschen, dass unsere Leistung mehr anerkannt wird.“ Nicht zu arbeiten, sei für ihn keine Option, erklärt er mit Blick auf seine Krankheit: „Ich brauche eine geregelte Tagesstruktur.“

BTHG wirft viele Fragen auf

Trotz zahlreicher Informationen zum BTHG im Voraus müsse er immer wieder helfen, so Stoss. „Fragen tauchen schon bei den einfachsten Dingen auf, wie etwa bei der Bezahlung des Essens.“ Der Verwaltungsaufwand sei gestiegen. „Ich stehe voll hinter dem Grundgedanken des Gesetztes, mehr Teilhabe und Selbstbestimmung zu schaffen. Aber das BTHG ist nicht bis zum Ende durchgedacht.“ Denn die Menschen müssten die sozialen Freiheiten, die das Gesetz bringe, auch nutzen können. „Das verhindert oft die Krankheit“, so Stoss. „Es fehlt an Kapazitäten, sich um die bürokratischen Aufgaben zu kümmern.“ Einen positiven Aspekte könne er dem BTHG aber abgewinnen: „Körperliche und psychische Beeinträchtigungen sind jetzt gleichgestellt.“

Diese Zeit fehlt mir letztendlich beim Gespräch mit den Menschen.
Kurt Wessinger, Gesetzlicher Betreuer

Als „den größten Schwachsinn“ bezeichnet Kurt Wessinger das BTHG. Er ist gesetzlicher Betreuer für etwa 30 Menschen mit Behinderung. „Das ist ein Bürokratie-Monster ohne Ende“, sagt er. Wessinger verbringe Stunden im Büro. „Diese Zeit fehlt mir letztendlich beim Gespräch mit den Menschen. Manche bekommen aber von niemand anderem als ihrem Betreuer Besuch“, sagt er. „Viele ehrenamtliche Betreuer steigen aus, weil sie es zeitlich und von den Anforderungen nicht mehr schaffen.“

Verträge sind über 50 Seiten lang

Das Gesetz erreiche das Gegenteil seines eigentlichen Zweckes für die betroffenen Menschen. Verträge für Leistungen seien von zehn auf bis zu 50 Seiten gewachsen. Mit dem BTHG musste Wessinger für alle Menschen, die er betreut, ein Girokonto einrichten. Schon das habe zu massiven Problemen geführt. „Wir müssen schauen, dass das Geld vom Konto nicht verschwindet und so die Leistungen nicht mehr bezahlt werden können“, sagt Wessinger. „Nur dadurch, dass das Landratsamt, die Einrichtungen und die Betreuer zusammenarbeiten, bekommen wir das irgendwie hin.“

Von der erstrebten Teilhabe kommt bei den Menschen aber wenig an.
Markus Liebendörfer, Hauptgeschäftsführer der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen im Bezirk Bruchsal-Bretten

Auch Markus Liebendörfer, Hauptgeschäftsführer der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen im Bezirk Bruchsal-Bretten, beobachtet, dass viele Betreuer mit dem Aufwand nicht mehr zurecht kämen. „Sie spielen mit dem Gedanken, die gesetzliche Betreuung abzugeben.“ Er vermutet, dass dies langfristig zu einer Schwemme in den Betreuungsämtern führe. Das Wunsch- und Wahlrecht hätte von den neuen Geldströmen abgekoppelt werden müssen, so Liebendörfer. „Im Mittelpunkt des BTHG steht eigentlich, dass Menschen mit Beeinträchtigung selbst gestalten können, wo sie etwa wohnen oder arbeiten möchten“, erklärt Liebendörfer. „Von der erstrebten Teilhabe kommt bei den Menschen aber wenig an.“

Betreuer sind verunsichert

Die Trennung der Zahlungsströme habe den Aufwand immens erhöht, so Liebendörfer. Die direkte Auszahlung von Geld an die Betroffenen habe pures Chaos ausgelöst. Betreuer und Betroffenen erhielten Beiträge ohne Hinweise, was sie damit machen sollen. „Sie sind verunsichert. Wir als Einrichtung rennen unserem Geld hinterher.“ Durch SEPA-Lastschriftverfahren versuche die Lebenshilfe konstant an das Geld zu kommen. „Allerdings haben das längst nicht alle Betroffenen eingerichtet. Zudem muss das Konto dafür gedeckt sein“, sagt Liebendörfer.

Lebenshilfe will Mahnwesen einrichten

Besonders kleinere Einrichtungen kämen durch fehlende Zahlungen schnell in finanzielle Schwierigkeiten. „Wir überlegen, ein Mahnwesen aufzubauen, wenn Leistungen erbracht sind, aber nicht bezahlt werden“, sagt er weiter. Das erhöhe wiederum die Verunsicherung bei den gesetzlichen Betreuern. „Wir haben kaum Erfahrung, wie die betroffenen Menschen auf Mahnungen reagieren. Bislang war so ein Schritt nie nötig.“

Das führt dazu, dass sie am Mittagessen nicht mehr teilnehmen.
Markus Liebendörfer, Hauptgeschäftsführer der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen im Bezirk Bruchsal-Bretten

Am Beispiel des Mittagessens erklärt Liebendörfer: Betroffene, die anders als Andreas Grundsicherung bekämen, verstünden oft nicht, dass ihnen der Betrag für das Essen zuvor auf ihr Konto überwiesen wurde. „Sie sehen nur die Rechnung“, sagt er. Dass sie das Geld dafür schon bekommen haben, realisieren sie nicht. „Das führt dazu, dass sie am Mittagessen nicht mehr teilnehmen.“

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