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Ausradiert in 20 Minuten

Vor 75 Jahren ging das alte Pforzheim unter – ist die neue Stadt ein Makel?

Die Folgen der Bombardierung prägen die Stadt an der Enz bis heute auf vielfältige Art und Weise: Persönliche Traumata werden über Generationen fortgeschrieben. Und das Erscheinungsbild des wiederaufgebauten Pforzheims sorgt bei Bewohnern bis heute teils für Rechtfertigungsdruck.

Bilder des Grauens: Der Feuersturm, entfacht durch den Luftangriff britischer Bomber am 23. Februar 1945, hinterließ die Pforzheimer Innenstadt als einziges Trümmerfeld. Auch die Stadtkirche wurde zerstört. An diesem Abend starben weit über 17.600 Menschen.
Bilder des Grauens: Der Feuersturm, entfacht durch den Luftangriff britischer Bomber am 23. Februar 1945, hinterließ die Pforzheimer Innenstadt als einziges Trümmerfeld. Auch die Stadtkirche wurde zerstört. An diesem Abend starben weit über 17.600 Menschen. Foto: pr

Am 23. Februar vor 75 Jahren wurde das alte Pforzheim binnen weniger Minuten von alliierten Bombern zerstört. Die Folgen prägen die Stadt an der Enz bis heute auf vielfältige Art und Weise: Persönliche Traumata werden über Generationen fortgeschrieben. Und das Erscheinungsbild des wiederaufgebauten Pforzheims sorgt bei Bewohnern bis heute teils für Rechtfertigungsdruck.

„Euer Ziel ist Pforzheim. Trefft es gründlich und viel Glück.“ Am 23. Februar 1945 schickte der Befehl des Kommandanten 362 Lancaster-Maschinen der Royal Air Force von Mittelengland auf den Weg in Richtung Nazideutschland, damit sie ihre todbringende Fracht über einer Stadt im Südwesten entluden, von der kaum ein Besatzungsmitglied je gehört hatte.

Zeitzeugin Ellen Eberle erinnert sich an einen gleißend hellen Wintertag. Die Sicht war gut. Und die Bomber erfüllten ihre Mission: Sie trafen gründlich. Tags darauf meldete die BBC, dass Pforzheim „ausradiert“ sei, wie der britische Historiker Tony Redding in seinem 2017 veröffentlichten Buch „Der totale Krieg und die Zerstörung Pforzheims“ dokumentierte.

17.000 Tote in 20 Minuten

75 Jahre nach dem schwärzesten Tag in der Geschichte Pforzheims klaffen die Wunden noch tief, ringt man immer wieder neu um ein angemessenes Gedenken, das Trauer um die Opfer erlaubt, aber auch deutlich macht, wer die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu verantworten hat.

Binnen 20 Minuten verloren nach Schätzungen weit mehr als 17.000 Menschen ihr Leben. In Relation zur damaligen Gesamtbevölkerung forderte der Angriff auf Pforzheim am 23. Februar mehr Opfer, als jener zehn Tage zuvor auf Dresden.

Mit dem Massensterben einher ging die fast vollständige Zerstörung einer Stadt, die wie Dresden als besonders schön galt mit prachtvollen Gründerzeithäusern, Fachwerk und kleinen, verwinkelten Gassen.

Wenn Pforzheim an diesem Sonntag den 75. Gedenktag des verheerenden Bombenangriffs begeht, werden Kirchen, Kulturträger, Initiativen und Schulen traditionell mitwirken. Aber es ist auch Pforzheimer Tradition, dass das rechtsextreme Lager alljährlich seine „Fackelmahnwache“ auf dem Wartberg abhalten darf.

Ist die neue Stadt ein Makel?

Selbst wenn man sich in Pforzheim gerade nicht auf den 23. Februar vorbereitet und sich politische Mandatsträger gerade nicht mit Initiativen, Gewerkschaften und Kirchen ums „richtige“ Gedenken streiten, ist die Zerstörung allgegenwärtig. Sie zeigt sich in der neu aufgebauten Innenstadt, die viele Menschen als hässlich empfinden.

Völlig zerstört: Häuser an der Genossenschaftsstraße in Pforzheim.
Völlig zerstört: Häuser an der Genossenschaftsstraße in Pforzheim. Foto: Stadtarchiv Pforzheim

Und sie ist spürbar als psychische Last, die viele Überlebende des Feuersturms ein Leben lang mit sich tragen. „Sie merken doch, wie ich zittere, ich habe ein Trauma“, sagt etwa Altstadträtin Ellen Eberle, als sie über den einen Tag spricht, dessen Ablauf sie noch heute minutiös rekonstruieren kann.

Wie sich die Themen Krieg und Zerstörung noch Jahrzehnte nach Pforzheims Schicksalstag gewissermaßen durch die Hintertür einschleichen, erlebt Thomas Lutz, stellvertretender Chef der Diakonie, regelmäßig in Gesprächen mit Einheimischen wie Auswärtigen. Wie man nur in einer solch hässlichen Stadt wohnen könne?

Lutz stammt aus Straubenhardt und hat mehrere Jahre sowohl in Karlsruhe als auch in Pforzheim gelebt. „Wenn sich jemand abfällig über Pforzheim äußerte, ging ich auch in die Verteidigungshaltung.“ Diese sehe in etwa so aus: Pforzheim sei eine so attraktive Stadt gewesen, und hätte es diesen schrecklichen Angriff nicht gegeben…

Die ständige Rechtfertigung für Pforzheim

Leiden die Pforzheimer an einem Minderwertigkeitskomplex aufgrund eines kollektiven Traumas? Davon will Psychologe Tom Handtmann nichts wissen. Der Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und deren Familien spricht vom ambivalenten Verhältnis, das Viele zu ihrer Heimatstadt hätten. „Man weiß, dass man was drauf hat in Sachen Medizintechnik und Schmuck.“

Andererseits gebe es dieses Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Für Handtmann ist das aber auch eine Folge des Niedergangs der Schmuck- und Uhrenindustrie, bis in die 80er-Jahre Pforzheims Alleinstellungsmerkmal.

Meine ganze Jugend bin ich an den Trümmerhaufen in der Stadt vorbeigelaufen, auf denen Kreuze standen mit den Namen der Toten.
Ellen Eberle, Überlebende der Bombardierung

Die Zerstörung des Stadtbildes vergleicht der Psychologe mit einem Anschlag auf die eigene Person. „Wenn mein Gesicht durch Brandwunden stark beschädigt ist, sehe ich nicht mehr so aus wie vorher.“ Das Gesicht bleibe dauerhaft verändert, es fehle ein Stück Identität. Man fühle sich hässlich.

Eine als hässlich empfundene Stadt konfrontiere Betroffene unmittelbar mit den Folgen des Bombardements und den Erinnerungen daran, meint auch Johanna Graf, Psychologin an der Uniklinik Tübingen, die Sprechstunden für traumatisierte Flüchtlingskinder und Erwachsene anbietet. Sie erinnert an den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden. „Das war identitätsstiftend.“

Die Frauenkirche als Symbol der Stadt sei auch Beweis, dass es wieder gut geworden sei.

Die Traumata überdauern Generationen

Für zahlreiche Überlebende des 23. Februar 1945 ist es nicht wieder gut geworden. „Die Angst wird in den Kindern bleiben für ihr ganzes Leben“, zitiert Autor Redding den späteren Oberbürgermeisters Friedrich Adolf Katz.

Und wie Ellen Eberle tragen viele Menschen ihre Erlebnisse, jederzeit abrufbar, in sich. „Meine ganze Jugend bin ich an den Trümmerhaufen in der Stadt vorbeigelaufen, auf denen Kreuze standen mit den Namen der Toten.“ Sie sei ein wissbegieriges Kind gewesen, und die Mutter habe aus ihrer Abneigung gegen Hitler keinen Hehl gemacht.

Und dennoch: Als nach dem Krieg in der Schule über die Pogromnacht am 9. November 1938 gesprochen wurde, sei sie aufgewühlt nach Hause gerannt, erinnert sich Eberle. „Ich wollte von meiner Mutter wissen, wo mein Vater an diesem Tag war.“ Der war Soldat gewesen. Zwar sei in ihrer Familie immer offen diskutiert worden, aber bis zu diesem Tag nicht über die Tragweite der Geschehnisse.

Traumata können auch Menschen belasten, die am 23. Februar 1945 noch gar nicht auf der Welt waren. Sie werden weiter vererbt, sagt Handtmann. „Bei Menschen, die so etwas erlebt haben und an posttraumatischer Stressbelastung leiden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich ihre Gene verändern. Für deren Kinder steigt das Risiko, ebenfalls psychisch zu erkranken“, erklärt der Psychologe, was Gegenstand der Epigenetik ist, einem noch recht jungen Gebiet der Biologie.

Ballungsgebiet der Belastungsfaktoren

Dies sei bei Holocaust-Überlebenden nachgewiesen. „Nachfolgende Generationen sind stressanfälliger beziehungsweise verletzlicher.“ Dies sei auch im Kontext der Zerstörung Pforzheims anzunehmen. Handtmann verweist auf die „Pforzheim Studie“, an der der Birkenfelder Arzt Rupert Linder beteiligt ist: Diese untersucht Auswirkungen von Belastungen aus Vorgenerationen.

Belastungsfaktoren seien hier spürbar – im Grad der Zerstörung, in der hohen Zahl an Bombenopfern und im hohen Anteil an Migranten, die vielfach auch Kriegserfahrungen mitgebracht haben. „Es ist wichtig, sich mit einem Trauma auseinanderzusetzen“, rät Handtmann. „Das konnten die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg aber nicht. Sie mussten funktionieren“, sagt Johanna Graf.

Die Tübinger Therapeutin schildert, wie wichtig es für ihre jungen Patienten ist, ihr Bilder der zerstörten Städte zu zeigen, aus denen sie fliehen mussten. „Das Gehirn kann es nicht begreifen. Daher gucken sie sich immer wieder Bilder an. Sie wollen mich als Zeugin dafür, was ihnen passiert ist und sich bestätigt fühlen. Das hilft beim Verarbeiten.“

Die Reflexion der Flieger

Für andere Überlebende des 23. Februar 1945 ist Trauma kein Thema. „Ich hatte die letzte Konsequenz der totalen Zerstörung noch nicht erfasst“, erzählt Bierbrauer Peter Ketterer. Er war 15 Jahre alt. „Und dann war Thema: Werden wir den Wiederaufbau des Betriebs bewältigen?“

Bei allen Risiken, die Pforzheims Trauma auch für die Enkelgeneration birgt, sieht Handtmann die „hoffnungsvolle Seite.“ Epigenetische Vorgänge lassen sich beeinflussen. „Man kann die physischen und psychischen Widerstandskräfte stärken.“

Auch ein positives soziales Umfeld sei wichtig. Resiliente Menschen könnten einfacher mit Stressfaktoren umgehen und seien weniger verletzlich.

Und wie erging es nach Kriegsende den Bomberbesatzungen mit dem Wissen, an jenem klaren Februartag 1945 Pforzheim so „gründlich“ getroffen zu haben? Einige Flieger haben die eigene Rolle kritisch hinterfragt, sagt Historiker Redding, bis hin zum Einräumen von Schuldgefühlen.

Viele Pforzheimer gedenken am Sonntag der Bombardierung der Stadt vor 75 Jahren. Oberbürgermeister Peter Boch (CDU) lädt zur zentralen Gedenkfeier am Nachmittag auf den Hauptfriedhof. Das Programm, das den ganzen Tag über von verschiedenen Gruppen gestaltet wird, legt diesmal Schwerpunkte auf Verantwortung und Toleranz. Am Abend werden sich viele Menschen mit brennenden Kerzen zum „Lichtermeer“ auf dem Marktplatz versammeln. Zur Erinnerung an die Minuten des verheerenden Luftangriffs sollen die Glocken der Kirchen zwischen 19.50 Uhr und 20.10 Uhr läuten.

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