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Aggression gegen Unparteiische

Wie der Boykott des Türkischen SV Mühlacker die Nöte der Schiedsrichter aufzeigt

Die zunehmenden Aggressionen gegenüber Schiedsrichtern beschäftigen bfv-Obmann Rolf Karcher. Anlass bietet ein Fall im Fußballkreis Pforzheim, wo der Türkische SV Mühlacker ein umstrittenes Zeichen an den Verband setzen wollte.

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Zutiefst besorgt ist bfv-Schiedsrichterobmann Rolf Karcher ob der zunehmenden Aggressionen gegen seine Schützlinge. Foto: Rubner

Es war der Aufreger des Sonntags in der Fußball-Kreisklasse A1 Pforzheim: Beim Stand von 1:2 in der 88. Minute führte Recep Coskun, Trainer und zweiter Vorsitzender des Türkischen SV Mühlackers, seine Mannschaft in der Partie beim FV Knittlingen vom Platz. Aus Protest gegen einige Schiedsrichterentscheidungen, wie er sagt.

„Wenn so etwas nochmal passiert, ziehe ich meine Mannschaft nochmal zurück“, erklärt er auch Tage später noch. „Ich lasse sie nicht abschlachten.“

Soll heißen: „Es wären noch mehr Rote Karten gewesen, der Schiedsrichter hatte das Spiel nicht im Griff. Ich wollte ein Zeichen an den Verband setzen, dass man so einen Schiedsrichter nicht bei einem Top-Spiel einsetzen kann.“

Aggression und Gewalt gegen Schiedsrichter nehmen zu

Das Signal ist beim Verband angekommen – aber anders, als sich das Coskun wünscht. „Da frage ich mich dann auch, ob der zweite Vorsitzende dieses Vereins im Ehrenamt richtig ist“, kommentiert Rolf Karcher, Schiedsrichterobmann des badischen Fußballverbandes (bfv) diese Aussagen.

Ihn, wie auch viele andere Schiedsrichter in Baden, treiben derzeit zunehmende Aggressionen gegen Unparteiische um . Trauriger Höhepunkt war ein Vorfall in Hessen, nahezu zeitgleich zu der Posse in der Pforzheimer A-Klasse: In der Partie zwischen dem FSV Münster und dem TV Semd (C-Klasse) schlug ein Spieler den Schiedsrichter krankenhausreif.

In Berlin streikten die Spielleiter bereits, um ein Zeichen gegen Aggressionen gegenüber Schiedsrichtern zu setzen.

Massiver Spielausfall in Pforzheims C-Klasse weil Schiedsrichter fehlen

Derlei nimmt auch in Nordbaden von Jahr zu Jahr zu. 141 sogenannte Vorfälle hat der bfv in der vergangenen Saison bei Spielen registriert, wie er auf Nachfrage mitteilt. 74 davon mit Beteiligung von Schiedsrichtern. Damit sind nicht nur tätliche Angriffe gemeint, sondern auch Bewerfen, Bedrohen oder der Versuch dessen.

„Die zunehmende Gewalt und Aggression ist für uns im Nachwuchsbereich ein erhebliches Problem“, betont Karcher. „Eltern sind in Sorge, melden ihre Kinder wieder ab.“

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„Chef auf dem Platz“: Der 14-jährige Silas Linnebach leitete im März in Mingolsheim erstmals eine Fußballpartie. Foto: Kochanek

Vor allem den Kreis Pforzheim trifft der Schiedsrichtermangel massiv. Nur 140 Unparteiische stehen dort zur Verfügung, wie der Verband mitteilt. Für die vergangene Saison war eine Zielgröße von 271 vorgegeben, also etwa das Doppelte.

Insgesamt konnten in der Vergangenheit daher rund 15 Prozent der Pforzheimer C-Klassen-Spiele nicht besetzt werden. „Für 2019/20 ist dieser Schnitt auch zu erwarten“, schreibt der Verband auf Nachfrage.

bfv-Schiedsrichter-Obmann Karcher lehnt Streiks wie in Berlin ab

Streiks, um auf diese Probleme aufmerksam zu machen, lehnen Karcher und auch der Pforzheimer Schiedsrichterobmann Jörg Augenstein zwar ab, weil man vor allem Unschuldige treffe und „die, die es betrifft, die werden darauf nicht reagieren“ (Karcher).

Und doch könne es so nicht weitergehen. „Diese Vereine müssen wir zu uns holen. In die Programme. Wir brauchen den Schulterschluss. Und wenn das nicht fruchtet, dann muss man sie als Spieler oder gar als Verein ausschließen“, so Karcher weiter.

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Schiedsrichter-Grafik Foto: None

Schiedsrichter werden zu Streetworkern mit Pfeife

Dabei arbeiten auch die Schiedsrichter an sich. Denn der Unparteiische wird immer mehr zum Streetworker mit Pfeife – gerade in den unteren Ligen. „Heute ist es nicht mehr so, dass man ein Spiel einfach pfeift. Man muss vorbereitet hinfahren, aber nicht vorbelastet“, betont Karcher.

Daher wolle man noch stärker die Platz-Ordnungs-Obmänner involvieren, die den Schiedsrichter schon im Vorfeld auf problematischer Spieler, Zuschauer oder Verantwortliche aufmerksam machen. Auch seien Konflikt-Bewältigungs-Seminare fest in die Schiedsrichterausbildung eingebunden. Zudem gibt es Patensysteme, damit junge Schiedsrichter in ihren ersten Spielen von Erfahrenen unterstützt werden.

„Man braucht dort Schiedsrichter mit einem großen Erfahrungsschatz. Die versuchen wir auch, dort einzusetzen“, betont Karcher. „Nur: Junge, talentierte und trotz des Alters erfahrene Schiedsrichter wollen ihre Karriereleiter nach oben klettern. Die sind dann kaum noch verfügbar im Kreis.“

Knittlinger Trainer nimmt Unparteiischen in Schutz

Inwieweit der Referee in Knittlingen zum Problem wurde, das möchte Pforzheims Oberschiedsrichter Jörg Augenstein nicht beurteilen. Coskun jedenfalls zählte ein abseitsverdächtiges Tor für Knittlingen, einen umstrittenen Elfmeter gegen sich und zwei Tore seines Teams, die wegen Abseits nicht gegeben wurden. Dazu noch eine Gelb-Rote Karte.

Eine etwas andere Version erzählt der Trainer des FV Knittlingen, Alexander Zimmermann. Demnach habe es in der 88. Minute Gelb-Rot gegen einen Türkspor-Spieler gegeben, weil der den Ball aus Frust in Richtung des Schiedsrichters gedroschen habe.

„Man kann nicht sagen, dass der gegen den Türkischen SV Mühlacker gepfiffen hätte“, sagt Zimmermann. „Da wären einige Spieler nicht mehr in meiner Mannschaft, wenn die das machen würden.“

Verlassen des Spielfelds hat Tradition in Pforzheim

Dabei hat das Verlassen des Platzes in Pforzheim mittlerweile eine gewisse Tradition. Im September 2016 etwa verließ der TSV Grunbach unter Protest den Platz in der Partie gegen Fatihspor Pforzheim, weil der Schiedsrichter Tätlichkeiten auf der Bank übersehen haben soll und man seine Spieler schützen wollte – so stellte es der TSV damals dar.

Im Jahr davor weigerte sich der FC Dietlingen gar, überhaupt gegen Fatihspor zu spielen, weil es auch dort wiederum ein Jahr zuvor einen Vorfall gegeben haben soll. „Da, wo es zu Konflikten kommt, sind nicht selten Spieler mit Migrationshintergrund beteiligt“, bestätigt Karcher.

„Das ist aber kein sportpolitisches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Wenn die türkische Nationalmannschaft den Militärgruß zeigt, dann geschieht das eine Woche später auch bei uns auf den Amateurplätzen.“

Dabei sind die Migranten nicht nur die Täter. Auch die Schiedsrichter stellten einen Querschnitt der Gesellschaft dar, räumt Karcher ein. „Manchmal fehlt auch gerade jungen Schiedsrichtern das Verständnis für die Kultur – aber das rechtfertig kein Schlagen.“

Übrigens: Schiedsrichter Allen Unterreiner (Bruchsal) hat Türkspor Mühlacker noch einen Gefallen getan. Er hat das Spiel nach 20 Minuten nämlich wieder angepfiffen, wodurch die Partie nicht mit 0:3 gewertet wurde. Das von Coskun befürchtete Rote-Karten-Schlachtfest blieb aus.

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