Nicht alle Zeitgenossen waren vom Kurhaus begeistert. Das räumt der badische Hofhistoriker Aloys Schreiber ein. Als persönlicher Freund Weinbrenners verteidigt er das Gebäude in dem von ihm erst nach Weinbrenners Tod 1826 herausgegeben siebten Heft der „Ausgeführten und projectirten Gebäude“ des Architekten.
Schreiber meint: „Man hat es dem Künstler mitunter zum Vorwurfe gemacht, dass er die Fenster an der Front so hoch gelegt. Dies geschah jedoch mit gutem Vorbedacht. Es war nöthig, einen Platz, wo sich oft Hunderte von Menschen drängen und in raschem Tanze bewegen, so viel als möglich gegen die brennenden Sonnenstrahlen und den Zugwind zu schirmen, und längs der Wände bequemen Raum für die sitzenden Frauen zu gewinnen“. Gleichzeitig hebt der Hofhistoriker die Qualität des Saals hervor: „Üebrigens gewährt dieser auch sehr zweckmäßg dekorirte Saal einen imposanten Anblick.“
Was ist der Grund für die Ablehnung mancher Besucher? Der Festsaal des Baden-Badener Kurhauses unterscheidet sich grundsätzlich von dem des rund ein Jahrzehnt älteren Wiesbadener Kurhauses. Der erste ist ein Saal ohne eingestellte Pfeiler, der zweite eine dreischiffige Halle, in der Säulen die beiden Seitenschiffe abtrennen. In Wiesbaden tragen die Säulen eine Galerie. Experten nennen dies Peristyl.
So viel ist klar: Der Baden-Badener Festsaal steht in einer völlig anderen Tradition als der in Wiesbaden, der seinen Ursprung eindeutig in den bereits in Folge 3 beschriebenen englischen Assembly Rooms hat. In Deutschland wurden diese über das Weimarer Residenzschloss vermittelt.
Vorbild in Ottersweier
Das unmittelbare Vorbild für den Baden-Badener Kursaal schuf Weinbrenner 1811/12 in Hub bei Ottersweier. Der Generalsteuereinnehmer und Stadtrechner Friedrich Kampmann aus Straßburg erwarb das heruntergekommene Hubbad 1810 und beauftragte Weinbrenner mit der Planung.
Im Süden der vierflügeligen Anlage erhebt sich das zweigeschossige Gesellschaftshaus, das den 26 Meter langen, 13 Meter breiten und zehn Meter hohen Kur- und Speisesaal aufnimmt. Dieser ist ideelles Zentrum der Gesamtanlage. Wie in Baden-Baden (und im Gegensatz zu Wiesbaden) ist er querrechteckig, liegt also quer zur Eingangsachse. Nach der Umnutzung der Kuranlage in ein Pflegeheim 1873 wurde der Kursaal 1893/94 durch den Architekten Wilhelm Strieder in eine Kapelle umgebaut.
Mit den Kursälen in Hub und Baden-Baden steht Weinbrenner in der Tradition der deutschen Kurarchitektur des 18. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang sind die bereits in Folge 2 beschriebene Neue Redoute in Aachen und das Kurhaus in Lauchstädt zu nennen. In beiden Fällen stehen ungeteilte Säle im Zentrum. Sie erstrecken sich über zwei Geschosse. Insbesondere der Aachener Festsaal ist vorbildlich für Weinbrenner. Für den unterschiedlichen Raumeindruck sind vor allem die reichen Stuckaturen im Stil des Louis XIV in der Neuen Redoute verantwortlich.
Weinbrenner, der autodidakt
Die Unterschiede zwischen dem Baden-Badener und Wiesbadener Kurhaus erklären sich auch durch den unterschiedlichen Werdegang der beiden Architekten. Als Zimmermann und Steinmetz kamen sowohl Weinbrenner als auch Christian Zais aus dem Bauhandwerk. Während sich Weinbrenner auf Studienreisen – vor allem in Italien – autodidaktisch zum Baumeister fortbildete, besuchte Zais nach der Lehre die Hohe Karlsschule in Stuttgart.
Diese 1770 von Herzog Karl Eugen von Württemberg als Militärakademie gegründete Einrichtung besaß seit 1781 den Status einer Universität und wurde 1794 aufgelöst. Hier studierten neben Zais auch Friedrich Schiller, Wilhelm von Wolzogen und Nikolaus Friedrich Thouret, die ihre Ausbildung aber einige Jahre früher beendeten. Jedenfalls waren Thouret als Architekt und Wolzogen als Mitglied der Baukommission am Bau des Weimarer Schlosses beteiligt. Zais, der im Gegensatz zu Weinbrenner die Denkmäler der Antike und Renaissance in Italien nicht aus eigener Anschauung kannte, griff auf Weimarer Vorbilder zurück. Dabei spielte die Tatsache, dass dort ehemalige Kommilitonen in unterschiedlichen Funktionen wirkten, sicherlich eine Rolle.