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Abschieds-Interview mit Martin Schlick

„Missbrauchsvorwürfe sind eine Achillesferse”

Martin Schlick hätte sich einen besseren Abschied gewünscht: Im BNN-Interview spricht der scheidende Baden-Badener Dekan über die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen gleich zwei Bühler Pfarrer in den vergangen Wochen und die drängenden Probleme der katholischen Kirche.

Dekan Martin Schlick
Abschied: Dekan Martin Schlick verlässt nach einem Vierteljahrhundert Mittelbaden. Foto: Ulrich Coenen

Martin Schlick, Pfarrer in Sinzheim und Hügelsheim und Dekan des Dekanats Baden-Baden, scheidet aus dem Amt. Am Wochenende hat er zwei Abschiedsgottesdienste gefeiert. Schlicks letzter Arbeitstag in Mittelbaden war der Sonntag. Am 1. Oktober wird Schlick leitender Pfarrer der Seelsorgeeinheit Zell im Wiesental. Unser Redaktionsmitglied Ulrich Coenen sprach mit Schlick, der Sinzheim nach fast einem Vierteljahrhundert verlässt, über drängende Probleme in der katholischen Kirche.

Ist es sinnvoll, dass ein etablierter Pfarrer und Dekan in diesen turbulenten Zeiten für die katholische Kirche nach einem Vierteljahrhundert die Wirkungsstätte wechselt?
Schlick

Das ist zweifellos ein Einschnitt, aber es war eine persönliche Entscheidung. Es gibt eine Empfehlung, dass ein Pfarrer nach zehn bis 15 Jahren wechseln soll. Dies hat Vorteile. Man wird vielleicht betriebsblind, wenn man zu lange auf einer Stelle sitzt und kann den einen oder anderen schlafenden Konflikt nicht mehr erkennen. Deshalb kann ein Wechsel sinnvoll sein. Aus Altersgründen musste ich die Entscheidung jetzt oder nie treffen, weil man für die Einarbeitung in die neue Gemeinde zwei bis drei Jahre braucht. Zudem: Wird nicht dem „Vater des Glaubens“, Abraham, noch in hohem Alter von Gott zugemutet: „Zieh weg aus deinem Vaterland …“ (Genesis 12)?

Die Pfarrgemeinden sind zu riesigen Seelsorgeeinheiten gewachsen. Fühlen Sie sich manchmal mehr als Manager denn als Seelsorger?
Schlick

Die Anforderungen steigen. Es gibt aber viele positive Beispiele von Kollegen, die mehr sein wollten als Manager. Ein Beispiel ist der scheidende Bühler Stadtpfarrer. Ich antworte mit der provozierenden Gegenfrage: Was würde passieren, wenn alle Pfarrer keine Manageraufgaben mehr hätten? Würden sich nicht manche Kollegen zusätzliche neue Aufgabe suchen? Sicher eine rhetorische Frag. Jeder gute Priester wird aber auch heute den Kontakt zur Gemeinde suchen. Es gibt genügend Kontaktmöglichkeiten wie Taufgespräche oder die Firmvorbereitung, wie Kontakte zur Erstkommunionvorbereitung, wie Trauergespräche, wie Ehevorbereitungsgespräche und so weiter.

Um den Priestermangel zu begegnen, plant die Erzdiözese Freiburg Großpfarreien. Bühl könnte deshalb nach Baden-Baden eingepfarrt werden.
Schlick

Wir denken zu sehr in den bisherigen Strukturen. Die Idee einer „Pfarrei neu“, wie ich sie nennen möchte und wie sie geplant ist im Projekt Kirchenentwicklung 2030 der Erzdiözese Freiburg, finde ich nicht schlecht. In einer solchen großen Pfarrgemeinde könnten die Priester durch einen Geschäftsführer von Verwaltungsaufgaben befreit werden. Derzeit sind wir hier beim Umschreiben der „Pfarrei neu“. Ein Projekt Geschäftsführung läuft gerade in der Seelsorgeeinheit Baden-Baden an. Ein Geschäftsführer, der kein Priester ist und sich beispielsweise um Bauangelegenheiten kümmert, kann unendlich entlastend sein.

In Deutschland werden die Pfarrgemeinden zu immer größeren Seelsorgeeinheiten zusammengefasst. Über die zum Teil kleinen Bistümer wie Aachen oder Limburg wird nicht diskutiert. Würden durch Zusammenlegungen nicht personelle Ressourcen für die Seelsorge frei?
Schlick

Ob dadurch tatsächlich Stellen für die Seelsorge frei werden würden, vermag ich nicht zu beurteilen. Vor allem betrifft die Bistumsgröße und -grenzveränderung aber das Konkordat, also die Vereinbarung zwischen Staat und Kirche. Es bedarf also einer neuen Abstimmung. Eine schnelle Änderung ist nicht möglich.

Ebenfalls wegen des Priestermangels übernehmen Laien immer mehr Verantwortung in den Pfarrgemeinden. Dieser deutsche Weg wurde zuletzt von Rom kritisiert.
Schlick

Irgendwann wird sich diese Frage von selbst lösen. Man kann sich über das Thema ereifern, aber das bringt nichts. Auch jetzt wird man sich gegen die Entscheidung aus Rom zur Wehr setzen, die deutschen Bischöfe werden Gespräche führen, Erläuterungen geben, Verhandlungen führen. Man sollte den Ball vielleicht ein wenig flacher halten.

Die Situation der katholischen Kirche hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert.
Schlick

Wir haben völlig andere Zeiten als vor 30 bis 50 Jahren und wir sind ein Stück weit ein Missionsland geworden. Ein Großteil der Menschen lässt seine Kinder noch taufen und schickt sie zur Kommunion. Bei der Firmung wird es bereits dünner. Die Zahl der Kirchenmitglieder ist rückläufig. Da stelle ich mir schon die Frage, ob es unterschwellig Gründe gibt, die wir gar nicht im Blick haben. Die Zeiten mit klaren konfessionellen Profilen gibt es nicht mehr. Es gibt in der katholischen, aber auch in der evangelischen Kirche Aufsplitterungen. Es gibt aber auch positive Ansätze mit unterschiedliche Modellen. In Ottersweier probiert die Gemeinde etwas Neues – Glaubenskurse mit gutem Erfolg aus. Aber auch das ist nicht jedermanns Sache.

Ist diese Entwicklung für die katholische Kirche noch umkehrbar?
Schlick

Ich möchte auf das Beispiel der Orden und Klöster verweisen. St. Vinzenz war in Sinzheim ein bedeutendes Haus. Der Orden hat einen radikalen Schlussstrich gezogen und das Haus an die politische Gemeinde übergeben. Ich habe mir schon die Frage gestellt, ob solche harten Entscheidungen für die katholische Kirche allgemein nicht in Zukunft ähnlich ausfallen werden.

Sie sprechen aber auch von positiven Ansätzen.
Schlick

In Corona-Zeiten ist die Kirche erfinderisch geworden. Es gab Erstkommunionvorbereitung über Videostream. Viel Neues wurde ausprobiert. Aber in vielen Familien ist ein zartes Pflänzchen in Sachen Glauben gekeimt – wie etwa Gebet in der Familie, das hoffentlich in der Sommerhitze nicht wieder verkümmert. Das ist für mich ein Hoffnungszeichen auch im Erstkommunionbereich, wofür Professor Albert Biesinger mit dem Ansatz Familienkatechese steht.

Macht der Zölibat, der erst seit 1073 für Priester verpflichtend ist, in der heutigen Zeit noch Sinn? Würde es ohne Zölibat nicht mehr Priester geben?
Schlick

Ich sehe mich nicht als Vorkämpfer für die Abschaffung des Zölibats. Damit wären unsere Probleme nicht gelöst. Schließlich gibt es in der evangelischen Kirche in Deutschland viele ähnliche Probleme wie bei uns. Allein am Zölibat kann es also nicht liegen. Wir erleben seit etwa 1975 eine schleichende Säkularisierungswelle. Doch da muss es Änderungen geben. Ich denke an Lösungen etwa der Teilkirchen.

Die Diskussionen um den sexuellen Missbrauch durch Priester nehmen kein Ende. In den vergangenen Wochen gab es zwei neue Fälle in Bühl.
Schlick

Das ist eine tragische Geschichte. Die Leserbriefe zeigen, wie hoch die Emotionen gehen. Zur Sache will ich mich nicht äußern, weil die Verfahren nicht abgeschlossen sind. Es gibt Verdachtsmomente. Auch für den Fall, dass nichts Belastbares zurückbleibt, bleibt für die betroffenen Priester ein Makel zurück. Dies betrifft aber nicht nur Priester, sondern alle Personen des öffentlichen Lebens bei ähnlichen Vorwürfen. Solche Personen sind „angeschossen“, auch wenn sich später herausstellt, dass nichts an der Sache dran ist. Solche Vorwürfe sind eine Achillesferse.

Wie meinen Sie das?
Schlick

Die Vorfälle in Bühl liegen rund drei Jahrzehnten zurück. In der MHG-Studie im Auftrag der katholischen Bischöfe wurde der sexuelle Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester aufgearbeitet. Diese Studie hat einen Mangel. Sie berücksichtigt den Zeitgeist nicht. Übrigens gibt es nicht nur in der katholischen Kirche Missbrauchsfälle. Ich will nicht auf andere weisen. Aber ich frage mich schon, ob wir nicht inzwischen eine Projektionsfläche geworden sind. Wer will vor diesem Hintergrund noch Priester werden?

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