Es sind Momente, die sich im Gedächtnis einbrennen: Da lag vor vielen Jahren ein Bub aus Bühl in Lichtenau schlotternd im Behandlungsstuhl des Zahnarztes. Plötzlich rumpelte es, dass fast die Instrumente von der Ablage hüpften. Nein, da fiel kein „Zahnsteingebirge“ in sich zusammen, es war der Güterzug, der auf dem Weg von Schwarzach nach Scherzheim durch die Hauptstraße des Hanauerstädtchens rollte, am „Ochsen“ in der „Häuserschlucht“ verschwand und seinem Ziel, der Firma Max Meier, entgegen strebte.
Oft mit dem Charakter einer Straßenbahn
Ob nun Lichtenau, Scherzheim, Freistett, „Diersche“, Rheinbischofsheim oder auch Kehl – der „Enteköpfer“ hatte auf einem beträchtlichen Teil seiner knapp 40 Kilometer von Kehl nach Bühl den Charakter einer Straßenbahn. Das nun wundert nicht, war doch die Bauherrin und erste Betreiberin ein Trambahn-Unternehmen, und zwar die Straßburger Straßenbahn (SSB). Die Nutzung der Straßentrasse für die Bahn hatte klare Vorteile. Die Bahngesellschaft sparte Geld beim Bau, und der Zug kam mitten durchs Dorf.
Nebenbahnbau sollte günstig sein
Wer sich mit alten Akten zum Nebenbahnbau beschäftigt, kann sehr schnell herauslesen, die Kosten spielten immer eine Rolle. Das wird in dem Erläuterungsbericht zur „Strassenbahn Kehl – Lichtenau – Bühl“ von 1888 deutlich (Original im Generallandes-Archiv/GLA in Karlsruhe unter Nummer 421/1485). Dort geht es um zwei Voranschläge: den des von der Berliner „Secundärbahn- Gesellschaft Hermann Bachstein beauftragten Ingenieur Müller aus Freiburg und den des Straßburger Ingenieurs Single.
Ingenieur Single traf Nerv der Experten
Während Müllers Voranschlag von den Bahnbau- Strategen als „entmuthigend“ bezeichnet wurde, schienen die Singleschen Kalkulationen den Geschmack der Experten zu treffen – auch was ein so wichtiges Detail wie die „Überfahrten“ zu den Häusern betrifft: „Es ist überhaupt nicht abzusehen, welcher Vortheil damit erreicht werden soll, die Bahn um 0,10 m höher zu legen als die Strasse", heißt es.
Herrliche Formulierungen
Und weiter: "Es genügen schon 2-3 cm, um Fuhrwerke von der Bahn abzuhalten, und eine solche Höherlegung bereitet der Anlage von Ueberfahrten für die Grundbesitzer keinerlei Schwierigkeiten.“ Dieses wertvolle Dokument ist eine Fundgrube zur Geschichte der Lokalbahn, die Lektüre lohnt sich allein wegen der herrlichen Formulierungen.
Es ist selbstverständlich, dass man nebst den Wirthen nicht auch noch extra Weichensteller, Assistenten und Wärter aufstellt, die ihrem Stationsvorsteher hungern helfen.
Wie in Freistett war an manchen Orten ein Wirtshaus Station des Enteköpfers, der Kneipier gleichzeitig der Bahnagent – ohne Personal. „Es ist selbstverständlich, dass man nebst den Wirthen nicht auch noch extra Weichensteller, Assistenten und Wärter aufstellt, die ihrem Stationsvorsteher hungern helfen.“ Und noch ein Bonmot: „Wenn man nun beim Betriebe von Strassenbahnen mit der Tradition der Stationsvorsteher mit ihren rothen Mützen bricht, so leidet darunter der Dienst keineswegs.“
Betrachtet man nun die laut den Bahn-Biografen Hans-Dieter Menges und Claude Jeanmarie („Mittelbadische Eisenbahnen. Villigen, 1974) 38,785 Kilometer lange Strecke der am 11. Januar 1892 eröffneten Lokalbahn von Kehl nach Bühl, fällt auf, der Straßenbahncharakter herrscht im Südbereich dieses Asts vor. In Kehl (durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs veränderte sich einiges) begann die Bahn einmal am „Straßenbahnhof“ (Nähe Rheinbrücke) und verlief wie eine Tram Richtung Rathaus.
Hausbesitzer machte Stunk gegen Lokalbahn
Dort zweigte die Trasse dann in einer scharfen Kurve nach Norden ab. „Da gab es sehr bald Ärger, der Besitzer des Eckhauses warf den Bahn-Verantwortlichen vor, der Zugbetrieb beschädige seine Immobilie“, berichtet Thomas Kohler, Vorsitzender des Modellclubs 1:87 Lichtenau und Experte für die Lokalbahn, die ab 1923 unter dem Dach der neu gegründeten Mittelbadischen Eisenbahn-Gesellschaft (MEG) eine Heimat findet.
Nach dem „scharfen Eck“ erreichen die Gleise bald die Haltestelle Kehl Turnhalle, nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1966 (Einstellung Betrieb Kehl-Auenheim) Endpunkt des Südastes der Stammstrecke. Immer querte eine Straße den Bahnkörper. Die Übergänge waren einfach mit Andreaskreuzen gesichert. Eine Ausnahme gab es in Bühl: An der heutigen Rheintalstraße waren Blinklichtanlage und Halbschranken installiert.
"Diersche Hauptbahnhof" am Rathaus
Doch weiter zum Verlauf der Bahnstrecke: Über „Auene“ (Auenheim) geht es nach Leutesheim – dort in Seitenlage zur Straße. Auf eigenem Bahnkörper wird bei Kilometer 9,9 der heutige Rheinauer Stadtteil Honau erreicht. In Diersheim verläuft die Bahn dann wieder in Straßenrandlage, „Diersche Hauptbahnhof“ ist das Rathaus.
Von "Bische" über Freistett nach "Scherze"
Rheinbischofsheim, als Bische, ist nun das Ziel. Von dort führt die Strecke in linker Seitenlage zur Straße bis Freistett (bei Kilometer 17,5 gibt es gar einen Anschluss Lokschuppen), dann entlang der B 36 Richtung Memprechtshofen (Renchbrücke gemeinsam mit Straße) und über Helmlingen- Muckenschopf nach Scherzheim. Dort findet sich das Gleis wieder in der Straße.
In Lichtenau ziehen sich die Gleise in Straßenlage (rechts) mitten durch den Ort bis zum Bahnhof Lichtenau- Ulm (Kilometer 26,0). Die Bahn kreuzt dann die Straße nach Moos, und die Gleise liegen nun auf eigener Trasse. Über Schwarzach, Hildmannsfeld, Moos, Oberbruch, Balzhofen und Vimbuch läuft der Schienenstrang bis nach Bühl (Nebenbahnhof). Die Bahn sollte zwar kostengünstig gebaut werden und ebenso im Betrieb überschaubaren finanziellen Aufwand verursachen, dennoch konnten die SSB nicht auf diverse Kunstbauten wie Brücken verzichten.
Frühe Beschreibung von 1892
Alfred Klatte thematisiert den Enteköpfer in seinen 1892 erschienenen „Wanderungen durch das Hanauerland und Beschreibung der Straßenbahn Kehl-Lichtenau- Bühl“. Er nennt die Flutbrücke bei Kehl sowie kleine Brücken über Giesel-, Mühl- und Holchenbach, über Galgenbach, Plauengraben, Acher, Krebsbach, Mühlbach, zwei Mal Laufbach bis hin zur Sandbachbrücke bei Vimbuch. Eines dieser Bauwerke, die Acherbrücke in Lichtenau, wurde vor nicht allzulanger Zeit nach 125 Jahren von ihrem angestammten Platz entfernt.
Lichtenauer Brücke nun bei der Selfkantbahn
Doch sie muss glücklicherweise nicht auf den Schrott. Bei der Selfkantbahn, einem Museumsbetrieb in der Nähe von Aachen mit zahlreichen erhaltenen Fahrzeugen der MEG, soll die Brücke in fernerer Zukunft in ihre ureigenen Funktion zu neuem Leben erwachen. Ob dann - wie einst in Lichtenau - ein paar Jungs für eine Mutprobe unter der Brücke sitzen werden, wenn der Zug darüber rollt, wird sich zeigen.