
Im Dezember hat die Ukrainerin Svitlana O. aus Sinzheim ihre Tochter Anna (Namen von der Redaktion geändert) verloren: Sie nahm sich das Leben. Ende Januar wäre das Mädchen 14 Jahre alt geworden.
Svitlana O. möchte darüber reden. Sie wolle, sagt sie, andere Eltern mahnen, seltsame Verhaltensweisen ihrer Kinder ernst zu nehmen, ihnen so viel Aufmerksamkeit zu schenken wie möglich.
Denn: Es gab einige Hinweise darauf, wie Anna sich fühlte; wie tief ihre Depression reichte, erkannte die Familie aber nicht.
Anna schottet sich immer mehr ab
Anna, sagt die Mutter von sechs Kindern, habe sich in den letzten Monaten immer mehr abgeschottet. Eigentlich ein sozialer, vitaler Mensch, habe sie sich immer weniger mitgeteilt und auf Fragen nach ihrem Befinden nur ausweichend geantwortet. „Ähnlich hatte sie sich schon verhalten, als ihr leiblicher Vater 2019 starb. Damals schafften wir es aber, ihr zu helfen.“
Während die Mutter spricht, krabbelt ihr jüngstes Kind – die Zweijährige stammt aus der zweiten Ehe Svitlanas – häufig auf ihren Schoß, möchte Schabernack treiben. Fern des Albtraums, den die Mutter durchlebt. Die streichelt die Kleine geduldig, gibt ihr Spielzeuge oder Kekse.
Abschied von den Freunden schlimmer als der Ukraine-Krieg selbst
Der Krieg selbst, glaubt Svitlana, sei für Anna nicht so dramatisch gewesen wie der Abschied von der Heimat, den Freundinnen, der Großmutter. „Sie fragte oft, wann wir zurückgehen.“ Und: „Sie brauchte ihre Privatsphäre. Nach unserer Ankunft in Offenburg wohnten wir aber monatelang in diversen Flüchtlingsunterkünften, ohne jede Rückzugsmöglichkeit. Ich weiß noch, wie Anna schier ausgerastet ist, als eine Mitbewohnerin die Decken, mit denen sie ihr Etagenbett zur Höhle gestaltet hatte, einfach herunterzog.“
Anna habe in jeder Unterkunft Freundschaften aufgebaut, die mit einem erneuten Ortswechsel wieder wegbrachen. „Auch hier fand sie eine beste Freundin. Neulich hatten die zwei allerdings Krach.“
Als sehr negativ wertet Svitlana Annas Abdriften in die virtuelle Welt: „Sie schaute häufig koreanische Serien und sagte einmal zu mir, das Leben bedeute nur Schmerz. Als ich fragte, was sie meinte, sagte sie: Ach, das ist nur ein Zitat aus einer Folge.“
Sie habe ohnehin viel Zeit mit dem Handy verbracht, auf Plattformen wohl auch, die ihre Suizidgedanken verstärkten. „Das Internet ist der Teufel“, sagt Svitlana. Vor einigen Monaten, als Anna regelmäßig zu spät zum Unterricht erschien – die Schule hatte den Eltern einen entsprechenden Brief gesandt – nahm die Mutter ihr das Handy zur Strafe zwei Wochen lang weg. „Da integrierte sie sich wieder mehr ins Familienleben. Aber einem Teenager das Handy dauerhaft vorzuenthalten, ist unmöglich. Ich nahm es später nur noch nachts an mich.“
Geschwister finden Brief
Einen Monat vor ihrem Tod fanden Annas Geschwister – zwei von ihnen standen ihr besonders nah – einen Brief unter ihrem Kopfkissen: Sie hatte einen Galgen darauf gemalt und geschrieben, vielleicht werde sie bald daran hängen. „Darin stand auch, sie wisse nicht, warum sie überhaupt lebe.“ Natürlich hätten sie Anna darauf angesprochen. „Sie wollte nicht reden.“
Unsere Kleinste lag schon bei uns, ich schickte Anna zurück in ihr eigenes Bett.Svitlana O.
Svitlana wirkt noch immer sehr aufgewühlt. Manchmal, wenn sie Szenen aus Annas Kindheit erzählt, die von deren Stärke und Mut zeugen, huscht ein Strahlen über ihr Gesicht, zumeist aber ringt sie mit den Tränen.
Zum Beispiel, als sie vom Abend vor Annas Tod erzählt, als diese zur Mutter ins Bett schlüpfen wollte. „Unsere Kleinste lag schon bei uns, ich schickte Anna zurück in ihr eigenes Bett“, sagt Svitlana.
Diese Erinnerung lastet spürbar auf ihr. „Sie ging dann zum Schlafen zu ihrer Schwester, die später erzählte, dass Anna sie ganz fest umarmt und gesagt habe: Ich liebe dich. Am Morgen fand mein Mann Anna tot auf.“
Manchmal spüre ich, dass Anna sich an meinen Arm kuschelt.Svitlana O.
Wenn sie zurückgehen könnte in der Zeit, sagt Svitlana, „würde ich mein Kind an mich drücken und nie mehr loslassen“. Jetzt – in einer Wohnung, die der Familie inzwischen vermittelt wurde – bemüht sich Svitlana um einen „normalen“ Alltag, auch um Annas Geschwister willen.
Psychologin hilft der Familie
Eine Psychologin, die aus der Ukraine stammt, versucht, ihnen dabei zu helfen. „Manchmal spüre ich, dass Anna sich an meinen Arm kuschelt“, sagt Svitlana. „Dann ist sie ganz nah und doch ist alles so kalt. Vielleicht werde ich ja verrückt.“
Annas Körper wurde eingeäschert und zur Oma in die Ukraine gesandt, wie Svitlana schließlich noch erzählt. „Sie ist jetzt wieder zu Hause.“
Hinweis der Redaktion
Die Badischen Neuesten Nachrichten berichten nicht über Suizide. Grund dafür ist, dass die Berichterstattung über Selbsttötungen erwiesenermaßen zu vielen Nachahmern führen kann. Ausnahmen werden nur gemacht, wenn ein Fall durch bestimmte Umstände besonders relevant ist. Sollten Sie selbst Probleme haben oder über Suizid nachdenken, gibt es in Deutschland 104 Seelsorgestellen, die jederzeit eine anonyme Beratung anbieten. Die kostenlosen Rufnummern lauten 0800 - 1110111 oder 0800 - 1110222. In Karlsruhe bieten zudem der Kriseninterventionsdienst K.i.D. (0721 - 830 36 47) und der Arbeitskreis Leben Karlsruhe (0721 - 811424) Hilfe und Beratung an.