Menschen laufen über Kopfsteinpflaster, ein Pferdefuhrwerk steht im Wald, Soldaten marschieren durch die Stadt, ein Ochsengespann wartet vor einem Haus.
Viel mehr, als dass diese Motive Anfang der 1890er-Jahre in Gernsbach und Umgebung entstanden sind und von dem niederländischen Kaufmann Hermann Albrecht Insinger fotografiert wurden, ist nicht bekannt.
„Wir können sie nur grob zuordnen, wissen aber nicht, welche Straße ist das, wer sind die Personen, was ist der Anlass?“ erklärt Vanessa Heitland vom Stadtarchiv in Bielefeld.
Archive setzen auf Crowdsourcing zum Foto-Archiv Insinger
Und das soll sich ändern. Mit einer sogenannten Crowdsourcing-Aktion will die Kunsthistorikerin jeden erreichen, der etwas zur Zuordnung der Fotografien beisteuern kann. Sämtliche Bilder wurden digitalisiert und sind nun online zugänglich.
Außerdem hat sich die Bielefelderin an das Gernsbacher Stadtarchiv gewandt. „Das ist mein erstes Crowdsourcing-Projekt“, erklärt Stadtarchivar Wolfgang Froese. Da er selbst im nächsten Jahr ein ähnliches Projekt starten will, war es für ihn keine Frage, die Bielefelder Aktion zu unterstützen.
Die Negative waren noch in den Original-Umschlägen von 1905.Vanessa Heitland, Stadtarchiv Bielefeld
Worum geht es genau? Jeder, der will, kann sich die 36 Murgtal-Motive online auf der Foto-Plattform Flickr anschauen oder im Gernsbacher Stadtarchiv am Computer. Wer sich ein kostenloses Konto auf Flickr einrichtet, kann die Fotos direkt kommentieren oder aber eine Mail ans Stadtarchiv senden. Archivar Froese sammelt diese und leitet sie nach Bielefeld weiter.
Insgesamt enthält das sogenannte „Archiv Insinger“, das über Umwege im Bielefelder Stadtarchiv gelandet ist, mehr als 6.500 Negative.
„Wir wussten am Anfang überhaupt nicht, was uns erwartet“, erzählt Heitland. „Die Negative waren noch in den Original-Umschlägen, die vom Fotografen 1905 verschlossen worden sind.“ Eine wahre Wundertüte habe sich ihr offenbart, mit Motiven aus Paris, Zürich, Venedig – und eben auch aus dem Murgtal.
Crowdsourcing-Projekt
Die digitalen Fotoalben mit Insingers Arbeiten finden sich hier. Das Album mit Bilder aus Gernsbach gibt es hier.
Unter jedem Bild befindet sich eine Kommentarfunktion, die mit einem Flickr-Konto zur Eingabe genutzt werden kann. So werden auch bereits vorhandene Kommentare sichtbar. Die Fotos selbst sind ohne Anmeldung bei Flickr sichtbar.
Alternativ ist es auch möglich, sich mit seinen Kenntnissen oder auch nur Vermutungen an das Stadtarchiv unter der E-Mail-Adresse stadtarchiv@gernsbach.de zu wenden. Von dort werden die eingegangenen Hinweise gesammelt weitergeleitet.
Die Geschichten zu den Fotos aus dem Murgtal sind völlig unbekannt
„Warum Insinger in Gernsbach war, wissen wir nicht genau“, sagt die Bielefelderin. Der Fotograf sei viel und gerne gereist. „Vielleicht war er lediglich auf der Durchreise, vielleicht hatte er aber auch einen guten Grund.“
1891 und 1893 war er vor Ort, so viel verraten die Aufschriften auf den Negativen, nur selten gibt es weitere Informationen.
Für Gernsbach-Kenner gibt es einige Hinweise. „Ich kann etwa 80 Prozent zuordnen“ sagt Archivar Froese. Das Ochsengespann etwa stehe vor dem inzwischen abgerissenen Gasthaus „Zum Bock“ auf der Schlossstraße, recht sei noch das alte Amtshaus zu erkennen.
Trotzdem setzt Froese auf die Schwarmintelligenz und hofft auf viele Hinweise. Auf einen Facebook-Post hin haben sich bereits sechs „Informanten“ gemeldet. „Das ist gar nicht schlecht“, freut sich Froese.
Das Konzept zeigt, wie Archive arbeiten und wie wir an Erkenntnisse kommen.Wolfgang Froese, Stadtarchiv Gernsbach
Das sammeln von Informationen stehe natürlich im Vordergrund. Der Gernsbacher Archivar sieht aber noch andere positive Seiten in dem Crowdsourcing-Projekt. „Ich finde das Konzept spannend, weil es auch um die Vermittlung geht. Es zeigt, wie Archive arbeiten und wie wir an Erkenntnisse kommen“, so Froese.
Die Bielefelder Kunsthistorikerin Heitland hofft dagegen auch auf die ein oder andere Geschichte hinter den Aufnahmen.
„Spannend wäre zu wissen, was es mit der Militärparade auf sich hat, die auf mehreren Fotos gezeigt wird“, sagt sie. „Oder mit den vier Menschen. Es wäre unglaublich, wenn jemand sagen würde, dass sind meine Großeltern oder irgendwelche Honoratioren.“