Heftige Streitereien und laute Schreie: Schon mehrmals hat es in der Nachbarschaft von Juliane T. „klare Hinweise“ auf häusliche Gewalt gegeben. „In regelmäßigen Abständen ist in unterschiedlichen Wohnungen in der Nacht Gewalt im Spiel“, sagt die Gaggenauerin im Gespräch mit dieser Redaktion. Sie will ihren richtigen Vor- und Nachnamen nicht in dem Bericht lesen und mit ihren Schilderungen nicht ins Detail gehen, weil sie Konflikte mit den Nachbarn befürchtet.
Vom jüngsten Vorfall berichtet T. nur so viel: „Zu hören waren Schreie und Bitten, mit dem Schlagen aufzuhören.“ Dennoch habe sie die Polizei wegen ihrer Bedenken nicht kontaktiert.
Tage nach dem Vorfall wendet sie sich mit folgenden Fragen an die Redaktion: Wie verhält man sich in solchen Situationen? Was kann man tun, um sich selbst zu schützen? Denn Probleme mit den Nachbarn wolle man auch nicht, so T.
Grundsätzlich sei es wichtig, sich bei einem klaren Verdacht auf häusliche Gewalt zeitnah bei der Polizei zu melden, betont der zuständige Sachbearbeiter für häusliche Gewalt im Polizeirevier Gaggenau. Er will anonym bleiben. „Es ist natürlich nicht immer leicht einzuschätzen, wann man zum Hörer greifen sollte. Zeugen sollten sich aber lieber einmal zu viel als einmal zu wenig bei uns melden.“ Es gebe nämlich Situationen, in denen das Opfer zwingend auf fremde Hilfe angewiesen sei. In denen Nachbarn zu Rettern werden.
Zeugen können auch anonyme Hinweise bei der Polizei geben
Trotzdem könne er nachvollziehen, dass Zeugen Bedenken etwa wegen möglicher Konflikte in der Nachbarschaft haben. Es sei aber auch möglich, einen anonymen Hinweis zu geben – ohne den eigenen Namen zu nennen. „Uns helfen vor allem Informationen wie: In der Wohnung von Familie XY sind Schreie zu hören. Dann wissen wir, in welcher Wohnung wir nachschauen müssen.“
Aber auch eine weniger genaue Angabe sei besser als gar kein Hinweis. „Wenn wir Hinweise bekommen, setzen wir uns dafür ein, die Anonymität der Zeugen mit allen Mitteln zu wahren“, versichert er. So werde deren Identität, falls überhaupt bekannt, etwa auf Nachfrage der Nachbarn „selbstverständlich“ nicht weitergegeben.
Man sollte sich immer in die Lage des Opfers versetzen.Sachbearbeiter für häusliche Gewalt
Polizeirevier Gaggenau
Außerdem sei es in seinen mehr als 20 Jahren bei der Polizei fast nie vorgekommen, dass Zeugen häuslicher Gewalt nach einem Hinweis an die Polizei Schwierigkeiten mit den Nachbarn gehabt hätten, sagt der Experte. „Man sollte sich immer in die Lage des Opfers versetzen. Würde man sich selbst nicht auch wünschen, dass einem geholfen wird?“ Hilfe werde häufiger gebraucht, als viele denken.
In Deutschland ist die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt 2022 im Vergleich zu 2021 um 9,4 Prozent gestiegen. Auch im Murgtal nehmen die Fälle zu. Jochen Bleier vom Polizeirevier Gaggenau spricht sogar von einem „deutlichen Anstieg“ im Zuständigkeitsbereich. Dieser reicht von Muggensturm bis Forbach.
Im Gebiet des Polizeireviers Gaggenau wurden 2019 insgesamt 47 Fälle verzeichnet – 24 davon in Gaggenau. 2020 sanken die Fallzahlen auf 44 (27 in Gaggenau). Und 2021 auf 41 Fälle (20 in Gaggenau). Umso deutlich sei dann der Anstieg 2022 auf 79 (29 in Gaggenau) gewesen, sagt Bleier. Auch in der Statistik des Polizeipräsidiums Offenburg spiegelt sich diese Entwicklung wider. 2021 wurden 668 Fälle häuslicher Gewalt verzeichnet, 2022 waren es 827.
Hohe Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt
Was die Gründe für den Anstieg sind, dazu könne er nichts sagen, betont Bleier. Für ihn sei aber klar: „Die Dunkelziffer ist nach wie vor hoch“, so Bleier. Deshalb könnten Hinweise aus der Nachbarschaft viel bewirken.
Wer schlägt, der geht.Sachbearbeiter für häusliche Gewalt
Polizeirevier Gaggenau
Der Sachbearbeiter für häusliche Gewalt verweist darauf, dass der Schutz des Opfers Vorrang habe. So könnten die Beamten gegenüber dem gewalttätigen Partner einen Platzverweis aussprechen. „Seine Wohnungsschlüssel werden ihm abgenommen. Nach dem Grundsatz: Wer schlägt, der geht.“
Polizei kann Annäherungsverbot für Täter anordnen
Verhängt die Polizei ein Annäherungsverbot, darf sich der Täter dem Opfer nicht nähern. Über das sogenannte Gewaltschutzgesetz könne auch ein längerfristiges Aufenthaltsverbot erwirkt werden. „Aus rechtlicher Sicht gibt es weitreichende Möglichkeiten, um auf entsprechende Vorfälle zu reagieren. Aber die Fälle variieren stark.“ Nicht immer brauche es drastische Maßnahmen.
An Folgendes muss sich die Polizei aber immer halten: Sollte es zu einer Straftat wie Körperverletzung gekommen sein, müsse der Staatsanwaltschaft eine Anzeige vorgelegt werden. „Die Staatsanwaltschaft entscheidet dann, wie es weitergeht.“ Derweil hat sich Juliane T. die jüngsten Vorfälle noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Mit dem Ergebnis: Sie werde sich noch an die Polizei wenden, um Rat sowie Informationen einzuholen.