Gesamtleiter der Gaggenauer Altenhilfe: „Das System steht vor dem Kollaps“
Von Normalbetrieb kann auch nach Corona in der Pflegebranche oft keine Rede sein. Auch die Gaggenauer Altenhilfe leidet unter steigenden Preisen und mangelndem Personal. Die Mitarbeiter vor Ort seien ausgelaugt und benötigen dringend Entlastung, erklärt Gesamtleiter Peter Koch.
Das Helmut-Dahringer Quartiershaus in Gaggenau gehört der Gaggenauer Altenhilfe. Die Personalsituation in der gesamten Pflegebranche ist aktuell angespannt.
Foto: Joachim Kocher
Der Verein Gaggenauer Altenhilfe wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. Über die Entwicklung des Vereins, aber auch zur aktuellen Situation und die weiteren Perspektiven der drei Häuser, in denen 350 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig sind, spricht der Gesamtleiter und Geschäftsführer Peter Koch im Interview.
50 Jahre Gaggenauer Altenhilfe. Herr Koch, wie sehen Sie die Entwicklung des Vereines?
Peter Koch
Die Gaggenauer Altenhilfe kann auf eine beeindruckende Geschichte zurückblicken. Vor 50 Jahren haben die Gründungsväter einen Verein ins Leben gerufen, der stark in die Gesellschaft eingebunden ist und von den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt mit viel ehrenamtlichen Engagement getragen wird. Neben der politischen Gemeinde haben die beiden Kirchen mit der Gründung des Vereins ihre soziale Verantwortung wahrgenommen. Diese Konstellation ist einzigartig und konnte über die Jahrzehnte bewahrt werden. In einem Umfeld, das seit Einführung der Pflegeversicherung immer stärker marktwirtschaftliche Elemente und den Profit bei der Versorgung älterer und pflegebedürftiger Menschen in den Fokus nimmt, steht in Gaggenau das Thema der Daseinsvorsorge und die soziale Verantwortung für die Menschen, die unsere Stadt groß gemacht haben im Vordergrund. Mit seinem umfassenden Angebot für die alten und pflegebedürftigen Menschen in unserer Stadt ist der Verein Gaggenauer Altenhilfe ein wichtiger Baustein des Gemeinwesens und der sozialen Infrastruktur.
Läuft der Betrieb nach Corona wieder reibungslos?
Koch
Die Corona-Pandemie hat den Bewohnerinnen und Bewohnern, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern viel abverlangt und Spuren hinterlassen. Nachdem wir nun in der postpandemischen Phase angekommen sind und die auferlegten Beschränkungen auch in den Pflegeeinrichtungen weitgehend beendet wurden, kommen wir wieder langsam in den Normalbetrieb. Jedoch scheint das Wort „normal“ weiter durch Krisen geprägt zu ein. Nach Corona stehen wir vor der Herausforderung der steigenden Preise und der sich zuspitzenden Personalsituation.
Haben während oder nach Corona Mitarbeiter die Altenhilfe verlassen? Wenn ja, wie viele?
Koch
In den vergangenen drei Jahren haben uns eine Hand voll Mitarbeiter verlassen. Viele Kolleginnen und Kollegen sind ausgelaugt und benötigen dringend Entlastungen, die leider nicht absehbar sind.
Wie sieht die Personalsituation insgesamt aus?
Koch
Die Personalsituation ist bei uns, wie in der gesamten Branche, stark angespannt. Offene Stellen können nur schwer oder gar nicht besetzt werden. Zudem sind wir am Beginn einer Berentungswelle, die in den nächsten 15 Jahren dramatische Auswirkungen annehmen wird. Bei uns sind 42 Prozent der Kolleginnen und Kollegen 50 Jahre und älter, damit sind wir voll im Trend der gesamten Pflegebranche. Dies alles auf dem Hintergrund von weiter steigendem Bedarf in den nächsten Jahrzehnten. Die Versorgung der Bevölkerung steht auf dem Spiel und es müssen dringend politische Maßnahmen ergriffen werden, um den Effekt abzumildern und die Versorgung der Menschen in unserem Land sicher zu stellen.
Wie sieht es mit Nachwuchs insgesamt aus, ist der Ausbildungsberuf interessant?
Koch
Wir bilden schon seit Jahrzehnten mit viel Engagement aus und haben immer bis zu 30 Auszubildende. Der Beruf ist durch die neue generalistische Pflegeausbildung noch attraktiver und anspruchsvoller geworden. Auch bieten wir zwischenzeitlich die Möglichkeit zum Pflegestudium an und unterstützen hier junge Kolleginnen und Kollegen. Es wird jedoch schwer sein, die ausscheidenden Kolleginnen und Kollegen alle zu ersetzen. Wir benötigen hier zwingend eine gezielte Zuwanderung, bei der die bürokratischen Hürden dringend abgebaut werden müssen.
Ist für Rentner ein Platz im Altenheim überhaupt noch finanzierbar?
Koch
Das ist die Gretchenfrage. Höhere Löhne, eine bessere personelle Ausstattung und somit bessere Rahmenbedingungen für das Personal, kosten Geld. Daher setzen wir uns schon seit Jahren für eine grundlegende Pflegereform ein. Vorschläge aus der Branche liegen auf dem Tisch. Die politisch Verantwortlichen müssen jetzt dringend ins Tun kommen. Wir müssen uns die Frage stellen: Was ist uns eine gute und menschenwürdige Pflege wert und was sind uns die Menschen wert, die diese Aufgabe für uns übernehmen?
Geschäftsführer der Gaggenauer Altenhilfe Peter Koch
Foto: Joachim Kocher
Der aktuelle Entwurf einer Pflegereform von Bundesminister Karl Lauterbach greift hier deutlich zu kurz. Der Mut zu einer wirklichen Finanzierungsreform fehlt wieder einmal. Das System steht vor dem Kollaps und erodiert schon in einzelnen Bereichen. Gerade im ambulanten Segment, das von der Politik seit Jahrzehnten als primäres Ziel ausgegeben ist, kommt es zu massiven Versorgungsengpässen. Menschen werden in dem Land mit dem vermeintlich besten Gesundheitssystem nicht mehr versorgt.
Müsste es nach ihrer Meinung eine Deckelung der Kosten geben?
Koch
Ja, wir setzen uns für den sogenannten Sockel-Spitzen-Tausch ein, wonach die Eigenanteile gedeckelt werden und die steigenden Kosten aus dem Solidarsystem getragen werden. Der Vorschlag der Initiative Pro Pflegereform, der wir angeschlossen sind, liegt seit Jahren auf dem Tisch.
Wie viele Selbstzahler haben sie in den Häusern der Gaggenauer Altenhilfe?
Koch
Aktuell haben wir noch rund 70 Prozent Selbstzahler. Mit der nächsten anstehenden Pflegesatzerhöhung im Monat April wird der Prozentsatz weiter nach unten gehen.
Zeigen ihre Montag-Kundgebungen Wirkung und werden sie diese weiterführen?
Koch
Unsere Demos, die wir gemeinsam mit anderen Einrichtungen des Pflegebündnis Mittelbaden regelmäßig montags durchführen, zeigen Wirkungen und werden wahrgenommen. Dies zeigt die erfolgte Berichterstattung in Zeitung, Fernsehen und Rundfunk und auch der Besuch des Sozialministers Manne Lucha im vergangenen Herbst. Wir werden diese Kampagne fortführen, bis wir eine nachhaltige Umsetzung unserer Kernforderungen erreicht haben. Auch werden wir unseren Protest nach Stuttgart und Berlin tragen und uns gemeinsam mit unseren Partnern im Pflegebündnis Mittelbaden zu Themen der Pflegepolitik kritisch äußern.
Was für Veranstaltungen stehen zum 50. Geburtstag der Gaggenauer Altenhilfe in den Häusern an?
Koch
Wir haben in diesem Jahr, neben den nach Corona wieder anlaufenden regelmäßigen Veranstaltungen in den Einrichtungen, ein Familienfest für unsere Mitarbeiter geplant. Auch sind am Standort Bismarckstraße und Willy-Brandt-Straße im Herbst ein Bewohnerfest und ein Ehrenamtsfest zum Jubiläum geplant. Das ganze Jahr über begleitet uns unser Festkalender, der auch digital auf unserer Webseite einzusehen ist und viele kleine Aktionen und Geschichten bereithält. Zum Jahresende planen wir noch eine Abschlussüberraschung.