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Der bwlv wird 100 Jahre alt

Suchtexperte: Die Droge diktiert irgendwann den Tag

Seit 100 Jahren gibt es in Renchen Hilfe für Alkoholabhängige. Aus der Trinkerheilanstalt wurde der Bade-württembergische Landesverband für Prävention und Rehabilitation mit 1100 Mitarbeitern. Im Juni wird in Karlsruhe "Geburtstag" gefeiert.

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Nicht nur Alkohol und illegale Drogen sind ein Problem: Die Computer- und Internetabhängigkeit ist eine der Süchte der Zukunft. Foto: Mirgeler

Eines der größten Unternehmen der Ortenau sitzt in Renchen – und kaum jemand weiß es. Der Baden-württembergische Landesverband für Prävention und Rehabilitation ( bwlv ) hat 1 100 Mitarbeiter, neun Fachkliniken und 50 Standorte. Deren Arbeit im Kampf gegen jede Art von Droge  wird von Renchen aus gesteuert, wo die Wurzeln liegen, in einer vor 100 Jahren gegründeten Trinkerheilanstalt. Die Einrichtung gibt es heute noch. Im Juni wird in Karlsruhe Jubiläum gefeiert. Seit der frühere Offenburger Landrat Klaus Brodbeck dort – kommissarisch – die Geschäftsleitung übernommen hat, sucht die Einrichtung mehr als bisher die Öffentlichkeit. Mit dem fachlichen Leiter des Verbunds, dem Psychotherapeuten Nikolaus Lange, hat ABB-Redakteur Frank Löhnig über das Thema Sucht gesprochen. Es hat erschreckend viele Facetten.

Eine Frage, die sich sicherlich schon mancher heimlich gestellt hat: Woran erkennt man, dass man abhängig ist?

Nikolaus Lange: Wichtig ist, dass es sich bei Abhängigkeitserkrankungen um anerkannte Erkrankungen handelt. Es ist kein Charakterfehler oder moralisches Versagen. Für die Diagnose einer Sucht oder Abhängigkeit müssen mindestens drei der folgenden sechs Symptome über einen mehrmonatigen Zeitraum zusammenkommen: ein starker Wunsch oder Zwang nach Suchtmittelkonsum, Kontrollverlust über den Konsum, körperliche Entzugssymptome, Steigerung der Konsummenge, Vernachlässigung von Pflichten und Interessen zugunsten des Substanzkonsums und Fortführung des Konsums trotz eindeutiger schädlicher Folgen.

Klaus Brodbeck: Eine spannende Frage. Da gibt es das Glas Wein am Abend, und plötzlich stellt man fest, die Flasche ist leer.

Lange: Es geht bei der Entwicklung von Suchtproblemen nicht um Einzelereignisse sondern um Verhaltensmuster, die sich über Monate, meist Jahre entwickeln, dass man zum Beispiel vermehrt auch in Situationen trinkt, die nicht angemessen sind, und dass man damit auch dann nicht aufhört, wenn Kritik von außen kommt. All dies ist erst einmal ein Missbrauch von Suchtmitteln. Daraus kann sich Abhängigkeit entwickeln: Der Konsum der Droge diktiert dann irgendwann den Tag, man versteckt sie, weil man nicht auffallen will, die Gedanken kreisen den ganzen Tag darum, die Suchtmittel zu besorgen, zu konsumieren, sich davon auszuruhen. Zuletzt kommen Entzugserscheinungen wie Zittern oder Schwitzen dazu. Dann sind Sie in der Abhängigkeit angelangt. Leider kommen die Abhängigen im Durchschnitt erst zehn bis zwölf Jahre nach Ausbruch der Sucht in die Behandlung. Sie und ihr Umfeld erkennen die Erkrankung nicht. Ein weiterer Grund ist, dass sich Betroffene sehr schämen.

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Nikolaus Lange Foto: None

Ist Alkohol Volksdroge Nummer 1?

Lange: Ja, leider immer noch.

Schafft man es in unserer Gesellschaft überhaupt, ein soziales Leben ohne Alkohol durchzuhalten?

Lange: Das ist schwer. Ein Mann zwischen 30 und 60 Jahren, der nicht trinkt, gehört zu einer Randgruppe. Ich habe großen Respekt vor Menschen, die den Schritt in ein dauerhaftes Leben ohne Alkohol wagen und auch bewältigen. Die körperliche Abhängigkeit vom Alkohol ist nach 14 Tagen bewältigt. Viel schwerer ist die Reduzierung der psychischen Abhängigkeit: Das passiert in der Entwöhnungsbehandlung, je nach Schwere der Erkrankung und dem sozialen Umfeld ambulant oder stationär. Dieser Prozess dauert, das Gehirn braucht seine Zeit, um ohne Alkohol zu funktionieren, die Änderung von Erlebens- und Verhaltensweisen zugunsten einer abstinenten Lebensgestaltung ebenso. Gerade im ersten halben Jahr nach erfolgreichen Reha-Maßnahmen sind die Patienten sehr anfällig für Rückfälle. Dafür bietet der bwlv Nachsorgeprogramme an.

Wie soll die Familie mit einer solchen Situation umgehen?

Lange: Die Angehörigenarbeit ist enorm wichtig. Der erste Schritt ist, dass der Partner oder, viel öfter, die Partnerin, das Problem erst einmal wahrnimmt, dass er oder sie keine Schuldvorwürfe formuliert, sondern sein subjektives Empfinden schildert. Und das natürlich nicht dann, wenn der Betroffene gerade berauscht ist. Wichtig ist, nicht mit Konsequenzen zu drohen, die man letztlich doch nicht einhalten kann oder will. Mir hat mal ein Patient gesagt: „Ich wusste schon an der Tonlage meiner Frau, ob sie tatsächlich die Koffer packt“. Wir bieten Hilfe für die Angehörigen – auch die von Suchtkranken, die sich nicht therapieren lassen.

Es kostet Mühe, sich illegale Drogen zu beschaffen, doch der Alkohol ist tief in der Gesellschaft verwoben. Wie weicht man dem aus?

Lange: Das klare Ziel ist die Abstinenz. Wer abhängig geworden ist, findet nicht mehr zurück zu einem „normalen“ Konsum, erneuter Alkoholkonsum führt mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Dauer zu einem erneuten Rückfall mit allen negativen Folgen. Grundsätzlich gilt: Es gibt beim Abhängigen nur zwei Zustände. Nass oder trocken. Ein Gläschen in Ehren gibt es für ihn nicht. Wenn Sie einen abstinenten Alkoholabhängigen unterstützen wollen, respektieren Sie seinen Verzicht auf Alkohol.

Braucht es einen Anstoß für einen Rückfall?

Lange: Wir wissen inzwischen, dass da an allererster Stelle, überraschenderweise, unangenehme Gefühlszustände stehen, Depressionen, Angstzustände, Stress. An zweiter Stelle stehen Konflikte mit anderen Menschen, erst sehr viel weiter hinten kommt so etwas wie Suchtdruck oder die soziale Verführung.

Welche Rolle spielt die Droge Alkohol beim bwlv?

Lange: In unsere Fachstellen kommen 65 Prozent der Hilfesuchenden wegen Alkohol und 35 Prozent wegen illegaler Drogen. Wir haben in unseren neun Kliniken rund 100 Plätze für Alkoholabhängige und 275 im Bereich illegale Drogen.

Wie hat sich der Konsum illegaler Drogen entwickelt?

Lange: Da gibt es gerade einen Wandel. Die Zahl der Opiatabhängigen, der „klassischen Junkies“ geht aktuell zurück, dafür haben wir vermehrt Patienten, die Cannabis konsumieren – der Wirkstoffgehalt hat sich durch Züchtungen und genetische Manipulationen seit den 70er Jahren vervielfacht, mit erheblichen Folgen. Bei vielen Patienten stellen wir kognitive Schäden fest, den Rückgang der Merk- und Denk- und Urteilsfähigkeit.

Was sind die Süchte der Zukunft?

Lange: Spielsucht zum Beispiel. Allein in der Fachstelle Offenburg werden inzwischen jedes Jahr rund 100 Menschen mit der Diagnose pathologisches Glücksspiel behandelt. Ein sehr wichtiges Thema ist auch die PC- und Internetsucht. Alle warten gerade auf die große Welle von Patienten. Wir engagieren uns deshalb stark in der Prävention, gehen an die Schulen. Es sind schon die ersten extremen Fälle bekannt geworden, beispielsweise der eines Jugendlichen, der fast rund um die Uhr am Computer gespielt hat. Er hat sogar vergessen, auf die Toilette zu gehen und sich regelmäßig eingekotet. Der Vater wusste sich nicht anders zu helfen und hat ihm einen Sanitärstuhl besorgt und diesen alle paar Stunden entleert. Oft hat eine solche Abhängigkeit auch körperliche Folgen.

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